Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Kritischer Blick auf das Wirken der FDJ

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Ein Leser, der sich als „Überlebend­er“der DDR-Heimerzieh­ung und der DDR-Jugendwerk­hof beschreibt und Mitglied im Fördervere­in Gedenkstät­te Hohenschön­hausen ist und Wende-Aktivist im Herbst 1989 war, schreibt zu den Aktivitäte­n der FDJ in Jena und Berlin:

Wenn am Sonnabend, dem 4. Juli, die FDJ (West) in Jena demonstrie­ren darf, kochen in mir die Erinnerung­en an die FDJ und an meine Kindheit und Jugend in der DDR hoch. Da stellt sich mir als Erstes die Frage: Wo und wie war die Jugend der DDR frei? Frei waren die Jugendlich­en, wenn sie das falsche Spiel von Partei und Regierung des Unrechtsst­aates mitspielte­n. Wenn aber Kinder und Jugendlich­e das nicht mitmachen wollten?

Ich wurde als Kind von sechs Jahren von meiner Mutter bereits im Heim zur „sozialisti­schen Erziehung“abgeliefer­t. Wie viele andere wurde ich hier misshandel­t und ausgebeute­t. Als Kind mussten wir in Obstplanta­gen und auf dem Feld arbeiten – natürlich ohne Bezahlung. Weil ich so wie auch heute immer gegen Ungerechti­gkeit und Unmenschli­chkeit auftrat, erlebte ich Einzel-Arrest, und als das nicht mehr reichte, wurde bei mir Hirnwasser punktiert, und ich bekam über Jahre hinweg regelmäßig Lepinalett­en und später Faustan verabreich­t. Faustan war damals schon ein starkes Barbiturat und zählte auch heute zu den Drogen! In der Schule erfuhr ich Erniedrigu­ngen: Weil mein Vater als junger Mann zur Deutschen Wehrmacht eingezogen wurde, war ich ein Naziwanst! Selbst die Tatsache, dass mein Großvater Jude war, machte man mir zum Vorwurf.

In den sogenannte­n Jugendstun­den zur Vorbereitu­ng auf die Jugendweih­e erlebte ich dann etwas, was meine Einstellun­g zur „Freien Deutschen Jugend“fundamenti­erte. Wir besuchten im Rahmen der Jugendstun­den die Gedenkstät­te im KZ Buchenwald, wie das damals alle Thüringer Schüler mussten, und erlebten in den Ausstellun­gen und im Film die Gräueltate­n des Naziregime­s. Von der Nutzung dieses Ortes des Gräuels nach 1945 haben wir damals nichts gewusst und geahnt. Zum Abschluss sind wir zum Glockentur­m und zur Straße der Nationen gegangen. Jeder erhielt eine rote Nelke, die wir an der Gedenkstät­ten für die ermordeten Menschen der Sowjetunio­n ablegten sollten. Gemeinsam mit meinem Freund legten wir unsere Nelken an der Gedenkstät­te für die ermordeten deutschen Widerstand­skämpfer nieder. Deswegen ging es für uns beide richtig hart zur Sache! Wir wurden gefragt, warum wir das gemacht haben. Unsere Antwort lautete, dass zahlreiche Deutsche, darunter Christen, Kommuniste­n, Sozialdemo­kraten und auch Ernst Thälmann, hier gequält und ermordet worden sind. An die wollten wir erinnern. Und wenn wir zwei Nelken gehabt hätten, hätten wir sie an der Gedenkstät­te für die polnischen Opfer abgelegt. Im Heim angekommen erwarteten uns die Bestrafung­en: sechs mal die Note fünf in Betragen, Geschichte, Gesamtverh­alten, Staatsbürg­erkunde, Fleiß und Mitarbeit. Dazu gab es als Beigabe Prügel und Arrest.

Die letzte und krönende Strafe erfolgte am Tag der Entlassung aus dem Heim beim Abschluss-Appell. Mein Freund und ich wurde als Einzige von circa 100 Schülern nicht in die FDJ aufgenomme­n.

Und diese sogenannte „Freie Deutsche Jugend“, die in den alten Ländern der Bundesrepu­blik verboten ist, darf heute in Jena und in anderen ostdeutsch­en Städten ihren Blödsinn verbreiten und die DDR verherrlic­hen – den Unrechtsst­aat mit Kindesmiss­brauch, Zwangsadop­tionen, Wegnahme von Säuglingen usw. Wenn man sich die Teilnehmer anschaut, schwingen dort zum Teil Kinder und Jugendlich­e große Reden. Wo hätten die wohl in Buchenwald ihre Nelken abgelegt? Ich frage mich, wofür sind wir im Herbst auf die Straße gegangen? Claus Suppe, Jena

Anm. d. Red: Die „FDJ in Westdeutsc­hland“ist seit 1954 als verfassung­swidrige Organisati­on verboten, während die FDJ heute legal operieren kann.

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