Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Das Streben nach Glück
Rollstuhlbasketballer Matt Scott kam nach Elxleben, um glücklich zu werden – und verließ es aus demselben Grund
Elxleben. Es ist der ultimative Moment der Glückseligkeit. Das Spiel, nicht irgendeins, sondern das Champions-League-Finale, steht Spitz auf Knopf. Thuringia Bulls Elxleben 69, CD Ilunion Madrid 66, noch 45 Sekunden zu spielen. An der Mittellinie erobert Matt Scott den Ball, nimmt mit seinem Rollstuhl Fahrt auf und versenkt das Spielgerät im Korb. Fünf Punkte Vorsprung, die Moral des Gegners ist gebrochen. Die Elxlebener sind zum zweiten Mal in Folge Europas Könige im Rollstuhlbasketball. Mit Matchwinner Matt Scott, der ein halbes Jahr zuvor um ein Haar an einer schweren Blutvergiftung gestorben wäre. Nun sitzt er da und grinst, mit dem Pokal in der Hand, um ihn herum kullern bei einigen die Tränen.
Genau aus diesem Grund war der US-Amerikaner im Sommer 2017 zu den Thuringia Bulls gewechselt. Er, einer der besten Rollstuhlbasketballer der Welt, wollte sein sportliches Glück finden, die aufstrebenden Elxlebener zur besten Vereinsmannschaft Europas und damit auch der Welt machen. Das gelang ihm quasi im Handumdrehen: Mit ihm als letztem fehlendem Puzzleteil, als Spiritus Rector, der im Angriff permanent den Korb attackiert und damit Räume für seine ebenfalls zur Weltklasse zählenden Mitspieler schafft sowie in der Defensive kaum überwindbar ist, holten die Bulls den deutschen Meistertitel und zum ersten Mal die Champions League.
Die zweite Saison mit ihm begann noch vielversprechender, die Abläufe auf dem Feld hatten sich inzwischen beinahe automatisiert. Ende des Jahres 2018 dann der Schicksalsschlag: Scott erlitt eine schwere Blutvergiftung, wurde ins künstliche Koma versetzt. „Die Ärzte in Erfurt haben mein Leben gerettet, die in Bad Berka meine Karriere“, meinte er, mit Basketball in der Hand im Krankenbett. Mit dem unbändigen Ehrgeiz und Siegeswillen, mit dem er vom ersten Tag eine seine Mitspieler inspirierte, kämpfte er sich in wenigen Monaten zurück aufs Spielfeld. Alle waren gerührt und freuten sich mit ihm, als er sein Comeback mit der entscheidenden Aktion beim zweiten ChampionsLeague-Sieg krönte. Es folgten der
Pokal und die deutsche Meisterschaft, das Triple war perfekt.
Leßmann schließt Rückkehr seines Führungsspielers nicht aus
Das wäre es wohl auch in diesem Jahr geworden. Wieder gelang mit Scott als Leader die Titelverteidigung in Meisterschaft und Pokal, ehe Corona die Weltrekord-Siegesserie bei 60 stoppte und den dritten Triumph in Europas Königsklasse verhinderte. „Matt hat uns auf eine neue Ebene gehoben“, adelt BullsGründer Lutz Leßmann seinen Führungsspieler mit den RastaZöpfen und dem Dauergrinsen.
Doch irgendwann in der CoronaKrise war dieses Dauergrinsen weg. Die Situation in seiner Heimat, mit inzwischen fast drei Millionen Infizierten und 130.000 Toten, sowie die „Black Lives Matter“-Bewegung, ausgelöst vom durch Polizeigewalt getöteten Afroamerikaner George Floyd, beschäftigen den Afroamerikaner Scott. Vor allem aber persönliche Dinge, über die der 35Jährige mit der Zeitung nicht sprechen will. Und auch nicht mit seinem Verein, nicht einmal mit seiner Vertrauensperson, Mitspielerin Jitske Visser. Vom einen auf den anderen Tag verlässt er Deutschland, fliegt in die USA zurück. Seit mehreren Wochen steht sein Rollstuhl, in dem er sonst jeden Tag auf dem Feld ist und Körbe wirft, unbenutzt im Fit-In Elxleben. „Wir haben Verständnis für seine Situation und sind ihm dankbar für alles, was er bei uns geleistet hat“, sagt BullsCoach Michael Engel.
Scott selbst schrieb eine lange Nachricht in den sozialen Netzwerken, in der er ankündigte, nicht vom Rollstuhlbasketball zurücktreten zu wollen. Jedoch stellte er klar: „Ich bin ein Optimist, der durch positive Energie aufblüht. Jetzt ist die Zeit der Besinnung, in der ich versuchen werde, Liebe und positive Gefühle aufzuladen.“Darüber hinaus will er die Auszeit dazu nutzen, Projekte gegen Rassismus und für Inklusion zu unterstützen, wie er es bereits zuvor tat.
Lutz Leßmann will derweil nicht ausschließen, dass Scott irgendwann wieder zurückkommt und für die Bulls spielt. „Er ist aber jemand, der viel über gesellschaftliche Dinge nachdenkt und Verantwortung tragen will. Deshalb muss er sich nun die Zeit nehmen, seine innere Mitte zu finden.“
Am 26. September soll die neue Saison beginnen. Leitwolf Matt Scott wird dann nicht dabei sein. Die Mannschaft kennt es, ohne ihn zu spielen und zu gewinnen, und ist auch dank seiner Führungsmentalität als Einheit gereift. Dennoch würden sich alle freuen, wenn er irgendwann wieder grinsend vor ihnen steht. Wenn er wieder glücklich ist und bereit für große sportliche Taten. Und vielleicht wieder den entscheidenden Korb für sie macht, in irgendeinem wichtigen Finale.