Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Herr Al Mohammad kauft ein
Wie ein Projekt für Nachbarschaftshilfe neue und alte Geraer zusammenbringt
Gera. Seit März ist Mirie Al Mohammad häufiger als sonst in Geschäften der Stadt unterwegs. Er kauft nicht für sich ein, sondern für Andere. Erst war es eine Familie in Corona-Quarantäne, jetzt ist es Frau M. (*), eine 74-jährige Frau mit angeschlagener Gesundheit. Andere Länder, andere Einkaufszettel: Am Anfang, erzählt der junge Syrer, gab es einige Verwirrung. Inzwischen sucht er Bierschinken nicht mehr in der Getränkeabteilung und was rätselhafte Namen wie „Leberwurst“oder „Knäckebrot“bedeuten, muss er nicht mehr zwischen den Regalen googeln. Auch Andrei Kazalikaschvili aus Georgien und der Syrer Yamen Chuib kaufen für Geraer ein. Der Kontakt wurde über den Interkulturellen Verein der Stadt geknüpft. Ob sie helfen können, hatte die Ehrenamtszentrale dort zu Beginn der Corona-Krise angefragt.
Vier Vereinsmitglieder hatten sofort zugesagt. Neben der praktischen Hilfe auch ein Weg, mit dem Alltag der deutschen Nachbarn etwas enger Tuchfühlung aufzunehmen, bemerkt Vereinschefin Evelyn Fichtelmann. Das betrifft nicht nur winzige Alltagssplitter. Sie kann sich noch gut an die Verwunderung erinnern, den die Bitte einer älteren Frau auslöste: Der nächste Einkauf muss warten, bis die Rente da ist. Dass es auch in diesem reichen Land Menschen gibt, die so rechnen müssen, habe einige Geflüchtete ehrlich überrascht.
Man gibt an der Tür ja nicht nur die Taschen ab, sagt Mirie Al Mohammad. Schon wenige Sätze über das Wetter oder die Gesundheit bauen Distanz ab. Mittlerweile fährt er Frau M. manchmal in seinem Auto in die Kaufhalle und trägt dann die Einkäufe in den vierten Stock. Für ihn sei die Einkaufshilfe auch eine Möglichkeit etwas zurückzugeben in der Stadt, die ihm seit fünf Jahren Sicherheit schenkt.
Und diese Tuchfühlung ist keine Einbahnstraße. Frau M. spricht von anfangs „gemischten Gefühlen“, als sie am erfuhr, wer nächstens an ihrer Tür klingeln würde.
Kontakt zu Geflüchteten hatte sie noch nie, zu Muslimen schon gar nicht. Aber dann sagte sie sich: Ich brauche Hilfe und sie bieten sie an. Seitdem schreibt sie Einkaufzettel in Druckbuchstaben, wenn es geht, legt sie eine leere Verpackung zur Anschauung dazu. Und so ganz nebenbei hat sie auch etwas über fremdes Leben erfahren, wie das ist wenn man allein nach Deutschland kommt, über eine Mutter, die vier Söhne aufzog, darüber, dass Einkäufe besser am Freitagvormittag erledigt werden sollten weil dann das muslimische Wochenende beginnt. Nachbarschaftshilfe mit interkultureller Färbung. Und ein Thema, das auf besondere Weise immer mehr Soziologen und Demografen
interessiert: Nachbarschaft. Welchen Stellenwert sie in unserem Zusammenleben einnimmt und welche neuen Formen gefunden werden können, damit Menschen die in einer Stadt leben, auch zusammenkommen. Laut Marktforschungsinstituts Ipsos sind fast 70 Prozent der Deutschen der Meinung, dass Deutschland in den vergangenen 20 Jahren weniger nachbarschaftlich geworden ist. Berichte über Nachbarn, die sich über ihre Gartenzäune hinweg Scharmützel liefern, die mit Leidenschaft gegeneinander prozessieren weil nebenan der Hund zu laut bellt, scheinen den Eindruck zu belegen.
Aber es gibt auch eine gegenläufige Tendenz, die Emnid-Meinungsforscher bestätigen: Einer großen Mehrheit der Deutschen ist gute Nachbarschaft so wichtig, dass sie bereit sind viel Zeit dafür zu investieren. Studien belegen, dass gute Nachbarschaft ein wichtiger Indikator für Lebensqualität ist, Standortfaktor für ein Quartier und dass es sogar einen Zusammenhang zwischen guter Nachbarschaft und Gesundheit gibt.
Ein Thema, zu dem auch die Einkaufshelfer ihre Erfahrungen haben, alte und neue. In meiner kleinen Straße in Aleppo kannten wir uns alle, erzählt Mirie Al Mohammad. Nachbarn, mit denen man lange zusammenlebt, sind wie Verwandte. Man teilt nicht nur ein Haus oder eine Straße. Man betreut die Kinder der anderen wenn es nötig ist, man feiert zusammen, man hilft einander, ohne lange zu fragen und ohne vorher ein Netzwerk zu gründen. In Deutschland erleben sie das anders. Yamen Chuib bedauert die Distanz in seinem Haus, in dem er seit vier Jahren lebt. Vielleicht, sagt er, liegt es am Kopftuch meiner Frau, wir sind Muslime, das verunsichert die Nachbarn. Andrei Kazalikaschvili erzählt von dem Kuchen, den seine Frau für die Nachbarn buk, als sie in ihr Haus in Gera zogen.
So hält man das in Georgien. Als sie damit an einer Nachbartür klingelte hatte die Frau verwundert gefragt, wie viel das kosten soll. Man könnte über ein solches Missverständnis leise lächeln. Aber die Selbstverständlichkeit nachbarschaftlicher Nähe vermissen sie alle. Sicher gibt es auch andere Erfahrungen, aber dies sind ihre.
Vielleicht ist es ein frommer Wunsch, dass die Nachbarschaftskultur der neuen Nachbarn ein paar Schneisen in die deutschen Maschendrahtzäune schlägt. Vielleicht brauchen wir aber auch mehr Projekte wie dieses. Er habe, sagt Andrei Kazalikaschvili, in den zwei Jahren seit er hier lebt, noch nie so viele persönliche Kontakte zu Deutschen gehabt, wie mit dieser Einkaufshilfe.