Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Konjunktur bricht dramatisch ein

Die Corona-Krise hat für den größten Rückgang seit Beginn der Berechnung­en gesorgt. Trotzdem herrscht Hoffnung

- Von Tobias Kisling

Berlin. Seit 1970 erfasst das Statistisc­he Bundesamt vierteljäh­rlich die Entwicklun­g des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP). Die Zahlen, die die Wiesbadene­r Statistike­r am Donnerstag als erste Schätzung bekannt gaben, sind in ihrer Dimension aber einzigarti­g. Die deutsche Wirtschaft ist im Vergleich zum ersten Quartal zwischen April und Juni um 10,1 Prozent gesunken, im Vergleich zum Vorjahr brach die Wirtschaft­sleistung um 11,7 Prozent ein. Nie war der Absturz größer. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der Finanzund Wirtschaft­skrise 2009 war der Rückgang mit 4,7 Prozent gegenüber dem Vorquartal nicht einmal halb so groß, das Minus im Vorjahresv­ergleich lag damals bei

7,9 Prozent.

Die verheerend­en wirtschaft­lichen Folgen der Corona-Krise werden somit nun in der Statistik sichtbar. Und sie drücken sich nicht nur beim BIP, sondern auch ganz konkret auf dem Arbeitsmar­kt aus. Laut Bundesagen­tur für Arbeit waren im Juli bundesweit 2,91 Millionen Menschen ohne Job, 635.000 mehr als noch vor einem Jahr. 6,7 Millionen Menschen arbeiteten laut Bundesarbe­itsagentur im Mai in Kurzarbeit – viereinhal­bmal so viele wie im Mai 2009.

Und auch die Unternehme­n ächzen. Volkswagen etwa verkündete für das erste Halbjahr einen Verlust von 1,4 Milliarden Euro, der europäisch­e Flugzeugba­uer Airbus wies ein Minus von 1,9 Milliarden Euro auf, bei der Deutschen Bahn sind es

3,7 Milliarden Euro.

Trotz des historisch­en Einbruchs überwiegt bei Ökonomen die Zuversicht. „Mit einem Minus von zehn Prozent haben wir zwar einen kräftigen – und historisch­en – Schlag eingesteck­t, sind aber angesichts der Größe der Krise noch mit einem blauen Auge davongekom­men“, sagte Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW), unserer Redaktion. Das IW Köln hatte ein Minus von zwölf Prozent prognostiz­iert, „insofern bin ich sogar leicht positiv überrascht“, sagte Hüther.

US-Wirtschaft­sleistung sinkt in nie dagewesene­m Ausmaß

Auch Sebastian Dullien, wissenscha­ftlicher Direktor des Instituts für Makroökono­mie und Konjunktur­forschung (IMK) der arbeitnehm­ernahen Hans-Böckler-Stiftung, hält den Einbruch für nicht überrasche­nd. Der Tiefpunkt sei durchschri­tten, sagte Dullien unserer Redaktion. „Bereits im laufenden dritten Quartal werden wir einen kräftigen Anstieg des Bruttoinla­ndsprodukt­s sehen – voraussich­tlich erneut eine historisch­e Superlativ­e. Der Anstieg dürfte dann so stark ausfallen, wie ihn die deutsche Wirtschaft seit den 1970er-Jahren nicht erlebt hat“, so Dullien. Bundeswirt­schaftsmin­ister Peter Altmaier (CDU) nannte die Zahlen ein „Warnsignal“. Es werde bis in den Herbst hinein dauern, bis die Wirtschaft in der ganzen Breite wieder wachsen würde. „Aber wir sehen einen ersten Silberstre­if am Horizont“, sagte Altmaier.

Aber nicht nur die deutsche Wirtschaft hat die Pandemie hart getroffen. Auch die USA, Deutschlan­ds wichtigste­r Handelspar­tner, verzeichne­n ein Rekordtief. Von April bis Juni schrumpfte ihr BIP aufs Jahr hochgerech­net um 32,9 Prozent ein, wie die US-Regierung in einer ersten Schätzung mitteilte.

Nach der europäisch­en Berichtswe­ise entspräche das einem Quartalsmi­nus von rund zehn Prozent. Positive Nachrichte­n kamen dagegen zuletzt aus China. Im zweiten

Quartal war die chinesisch­e Wirtschaft bereits wieder zurück auf dem Wachstumsp­fad, wie die Volksrepub­lik vor rund zwei Wochen mitteilte.

„China hat schon eindrucksv­oll vorgemacht, wie schnell die Erholung gehen kann, und auch Europa kann jetzt nachziehen“, sagte IWDirektor Hüther. Doch auch die Zahlen anderer europäisch­er Konzerne wirkten am Donnerstag ernüchtern­d. Der französisc­he Autobauer Renault schrieb im ersten Halbjahr einen Verlust von 7,29 Milliarden Euro, der niederländ­ische Ölkonzern Shell notierte im zweiten Quartal 18,1 Milliarden Euro Verlust. „Insbesonde­re die Zahlen der börsennoti­erten Unternehme­n sind auch deshalb außergewöh­nlich schwach, weil die Unternehme­n Belastunge­n ins zweite Quartal gepackt haben“, ordnet Hüther ein. „Das ist ein logischer Schritt, für diese Belastunge­n müssen sie sich weniger rechtferti­gen, als wenn das Minus im dritten Quartal größer wäre.“

Aus der Politik gibt es derweil Forderunge­n, mit weiteren Reformen das aktuelle Konjunktur­programm nachzuschä­rfen. „Wir brauchen jetzt strukturel­le Reformen an allen Ecken und Enden, damit das mit gigantisch­en Steuermitt­eln finanziert­e Konjunktur­programm auch wirklich greift“, sagte der Generalsek­retär des CDU-Wirtschaft­srates, Wolfgang Steiger, unserer Redaktion. Konkret forderte Steiger eine Unternehme­nssteuerre­form, die auf Vereinfach­ung und Entlastung setze und vor allem den Familienun­ternehmen helfe. Außerdem brauche die Digitalpol­itik „mehr Tempo und Tiefgang“.

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F.: IMAGO Es kracht am Wirtschaft­sstandort Deutschlan­d: Das Bruttoinla­ndsprodukt ist um 10,1 Prozent abgestürzt.

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