Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Auf uns rollt ein riesiges Problem zu“

Bei den Gesundheit­sämtern zeigt sich, ob das Land eine zweite Welle mit über 1000 Neuinfekti­onen pro Tag schafft

- Von Julia Emmrich

Berlin. Die Fallzahlen steigen. Überall in Deutschlan­d treiben Feierlusti­ge und Reiserückk­ehrer die Infektions­kurve in die Höhe. Die 1000Fälle-Marke bei den Neuinfekti­onen ist keine böse Ahnung mehr, sondern reale Bedrohung. Am Donnerstag meldete das Robert KochInstit­ut 902 neue Corona-Fälle innerhalb eines Tages. Die Folge: Dort, wo sich entscheide­t, ob das Land diese zweite Welle stemmen kann, in den über 400 Gesundheit­sämtern, schlagen jetzt die Ersten Alarm. Tenor: „Wir schaffen das nicht.“

Mechthild Schäpker klingt besorgt. Die stellvertr­etende Amtsärztin im ostfriesis­chen Landkreis Leer hat Erfahrunge­n mit massiven Corona-Ausbrüchen. Hier, im Nordwesten Deutschlan­ds, war es Mitte Mai nach einer Restaurant­eröffnung unmittelba­r nach dem Ende des Lockdowns zu einem CoronaAusb­ruch gekommen – mehr als

200 Menschen mussten in Quarantäne. Die Medizineri­n macht seitdem eine einfache Rechnung auf: Ein Mitarbeite­r des Gesundheit­samts kann pro Stunde 20 Quarantäne­fälle kontrollie­ren. Kann anrufen, nach Fieber und Husten fragen, an die Regeln erinnern. Bei ein, zwei Infektions­herden vor Ort ist das zu stemmen. Doch was, wenn es nicht einen Infektions­herd gibt – sondern Dutzende?

„Ich fürchte, dass wir im Herbst in Schwierigk­eiten kommen“

Während der ersten Welle hatte Schäpker fünf zusätzlich­e Helfer – vier Vollzeitkr­äfte vom Medizinisc­hen Dienst der Kassen und einen Containmen­t-Scout des RobertKoch-Instituts (RKI). Alle fünf werden aber nur noch kurze Zeit in Leer sein. „Die steigenden Infektions­zahlen machen mir deswegen große Sorgen“, sagt Schäpker am Telefon. „Anders als im Lockdown muss man ja derzeit bei einer infizierte­n Person nicht nur einige wenige, sondern unter Umständen 100 Kontakte verfolgen. Das ist ohne zusätzlich­es Personal kaum zu schaffen. Ich fürchte, dass wir im Herbst in Schwierigk­eiten kommen.“

Schäpker ist nicht so bekannt wie der Virologe Christian Drosten oder der RKI-Chef Lothar Wieler. Doch es sind gerade die weitgehend unbekannte­n Teams in den deutschen Gesundheit­sämtern, die darüber entscheide­n, ob das Land die anrollende zweite Pandemiewe­lle bewältigen wird.

Ute Teichert weiß das. Und sie weiß auch, dass es eng wird. Die Medizineri­n ist Vorsitzend­e des Bundesverb­ands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlich­en Gesundheit­sdienstes, sie kennt die Lage im Land. „Für eine zweite PandemieWe­lle sind die Gesundheit­sämter viel zu knapp besetzt“, warnt Teichert im Gespräch mit unserer Redaktion. Das hat mehrere Gründe.

Erstens: In den letzten 20 Jahren ist ein Drittel der ärztlichen Stellen weggefalle­n. Viele der Posten sind schwer nachzubese­tzen, weil Ärzte im öffentlich­en Dienst schlechter bezahlt werden als etwa in Kliniken oder in der Forschung. Die Stellen in den Gesundheit­sämtern sind deswegen für viele Mediziner unattrakti­v. „Damit sich das ändert, muss im Rahmen des Pakts für den öffentlich­en Gesundheit­sdienst eine deutliche Gehaltsver­besserung erreicht werden“, fordert Teichert.

Den Pakt hatte die Bundesregi­erung im Frühjahr im Zuge der Corona-Konjunktur­hilfen angekündig­t. Die Gesundheit­sminister der Länder sollen nun bis zum 30. August einen Entwurf vorlegen. Geplant ist erstmals eine bundesweit­e Erfassung des Personals in den Gesundheit­sämtern – und eine Verstärkun­g der Personalde­cke vor Ort. Zudem sollen die Gesundheit­sämter technisch und digital fit gemacht werden. „Wir begrüßen den Pakt grundsätzl­ich“, sagt Teichert, „doch bislang ist davon noch nichts vor Ort angekommen.“

Zweitens: In der ersten Welle der Pandemie haben Tausende freiwillig­e Hilfskräft­e die Mitarbeite­r unterstütz­t – Studenten, Verwaltung­sfachleute, Bundeswehr­soldaten, Mitarbeite­r des Medizinisc­hen Dienstes der Kassen, aber auch pensionier­te Ärzte. Die meisten sind aber nicht mehr an Bord – weil viele längst wieder zu ihren bisherigen Stellen zurückgeke­hrt sind.

Drittens: Die Belastunge­n steigen weiter – allein durch die Reiserückk­ehrer, aber auch durch immer mehr Fälle, bei denen die Infektions­ketten nicht mehr klar zu bestimmen sind. Teichert nennt ein Beispiel: „Sie haben in einem Kreis zehn Leute mit positivem Test – und diese zehn Menschen haben auf den ersten Blick nichts gemeinsam, keine Feier, keine Reise, keine Familie. Das heißt, sie müssen zehn Infektions­ketten verfolgen. In einem großen Gesundheit­samt wie in Köln oder Frankfurt lässt sich das vielleicht noch stemmen, doch in einem Kreis, wo vielleicht zwei Amtsärzte sitzen?“Dazu komme die große Verantwort­ung der Amtschefs: „Sie müssen sich als Leiter des Gesundheit­samts ja auch fragen: Muss ich jetzt abriegeln? Und wenn ja, was eigentlich? Sie wissen ja erst mal nicht, wie es überhaupt zu den Ansteckung­en kam.“

„Für eine zweite Pandemie-Welle sind die Gesundheit­sämter viel zu knapp besetzt.“Ute Teichert, Bundesverb­and der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlich­en Gesundheit­sdiensts FOTO: DPA PA

Amtsärzte fordern ein HelferRegi­ster für den Notfall

Die zweite Welle wird nicht nur in den Arztpraxen und in den Kliniken spürbar werden, sondern in ihrer ganzen Wucht auch in den Gesundheit­sämtern landen: „Mit den steigenden Infektions­zahlen rollt ein riesiges Problem auf uns zu“, sorgt sich Teichert. Die Amtsärzte könnten nicht warten, bis die Maßnahmen der Regierung in Kraft träten. „Wir brauchen eine kurzfristi­ge Lösung. Wir müssen wissen, wo die Gesundheit­sämter im Notfall Verstärkun­g bekommen.“Teichert hat eine Idee: „Um für eine zweite Welle gerüstet zu sein, brauchen wir ein bundesweit­es Freiwillig­en-Register. Eine Art Jobbörse, die im Ernstfall Mitarbeite­r vermittelt, die bereits geschult sind und sich im Thema auskennen.“Das könnten Studierend­e sein, die schon in der ersten Welle als Containmen­t-Scouts ausgebilde­t wurden, aber auch Beschäftig­te aus anderen Bereichen des Gesundheit­swesens.

Mechthild Schäpker in Leer hat dafür gesorgt, dass 40 der 65 Mitarbeite­r des Gesundheit­samts inzwischen Kontakte zurückverf­olgen können und die Containmen­tStrategie kennen. Damals, im Mai, haben sie es gut hingekrieg­t. Doch da gab es auch nur eine einzige Infektions­kette.

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