Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Lordsiegelbewahrer der Klassik
Marcel Lepper, der neue Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, agiert im Digitalzeitalter
Weimar. Seit Anfang Juli steht Professor Marcel Lepper (42) dem Goetheund Schiller-Archiv Weimar als Direktor vor. Wir sprachen mit dem gebürtigen Westfalen, dessen wichtigste Karrierestationen von Leitungsaufgaben in Archiven in Marbach und Berlin markiert waren.
Wie sind Sie in Weimar gelandet? Wie war der erste Arbeitstag?
Die ersten Eindrücke: Ich wurde mit Sekt empfangen, und noch nie im Leben habe ich so viel Post mit lateinischen Glückwünschen erhalten. Die ersten Wege: zu den Mitarbeitern, zu den Beständen im Lesesaal und zur aktuellen NietzscheAusstellung im Mittelsaal, dessen Vitrinen ein Jahrhundertgedächtnis in die Gegenwart holen. Der erste Archivkasten: Briefe des amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson an den Goethe-Forscher Herman Grimm – Sinnbild für unsere transatlantischen Beziehungen, die wir in schwieriger Zeit beleben und reflektieren werden.
Stellt sich beim Blick von Ihrer Literaturburg hinab auf die Stadt beim Lordsiegelbewahrer der Deutschen Klassik ein Gefühl von Erhabenheit ein?
Eher das Bewusstsein von Verantwortung. An der Erhabenheit des Hauses wollen wir uns nicht berauschen, sondern neue, unkonventionelle Ideen zur Geltung bringen. Fällt das in der Klassischen Moderne leichter als bei den großen Namen des 18. und 19. Jahrhunderts? – Das Vorurteil möchte ich mit Verve widerlegen.
Worauf richtet sich Ihr Sinnen und Trachten mehr: aufs Digitale oder aufs papierene Analoge?
Das hängt von der Zielsetzung ab. Bewahren und in die Zukunft tragen wollen wir unbedingt die analogen Dokumente, aber um Zukunftsfähigkeit fürs Archiv und für die Archivalien herzustellen, brauchen wir das Digitale. Denn das erleichtert standortunabhängig die Zugänge – und damit die internationale Kommunikation, oder auch die Erprobung quantitativer Verfahren.
Wie „echt“sind denn all die digitalen Kopien? Und wie haltbar?
Das Wesen einer Handschrift und ihren charismatischen Glanz versteht jeder. Dass dagegen Digitalisate keine Ewigkeitsgarantie besitzen und an Datenformate gebunden sind, rückt erst langsam ins Bewusstsein. Daher ist die Idee, dass
Digitalisate allezeit und grenzenlos frei flottieren, schlicht irrig. Es kommt auf Server, auf Datenbankstrukturen und die Organisation von Netzwerken an. Vor unabsichtlichen Kopierfehlern und vor absichtsvollen Verfälschungen müssen wir uns schützen; dazu gibt es für jedes Digitalisat ein sogenanntes Master-Tiff – quasi als „digitales Original“.
Wir lernen aus Briefen, Notizen und Tagebüchern der Dichter und Denker viel über ihren Alltag. Wozu?
Die Selbstinszenierung Goethes, die sich in solchen Medien abbildet, ist so faszinierend, dass sie als solche bereits zum Forschungsgegenstand geworden ist. Darüber darf man das werkzentrierte Arbeiten nicht vernachlässigen. Die Sammlung von Biografica sollte also kein Selbstzweck sein, sondern Treibstoff für die hermeneutische, ästhetische, soziale Erschließung von Kunstwerken.
Hätte Goethe Facebook, Instagram und Twitter benutzt?
Ganz sicher hätte er das; wahrscheinlich hätte er auch Helfer für die Pflege der Accounts gehabt. Je weiter man in den Goetheschen Kosmos vordringt, desto mehr zeigt sich, dass er eine temporeiche Vielstimmigkeit anstiftete – Kommunikation mit ihm und über ihn und über das, was ihn umtrieb.
Wie groß ist die anachronistische Kluft zum Smartphone-Benutzer unserer Zeit?
Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Erfahrungskluft. Viele Kontexte und Anspielungen in Werken der Klassiker versteht nur, wer sich wie sie in antiker Mythologie, in der damaligen Welt der Theologie, der Philosophie und der Künste auskennt. Genauer besehen, haben Wieland und Goethe sich selbst darüber schon lustig gemacht. Viele ihrer Werke fordern und verzaubern ohne Ermüdungserscheinungen: Das nennen wir dann Weltliteratur.
Ist die conditio humana heute, nach 200 Jahren, eine andere?
Nach Zivilisationsbrüchen, nach historischen Zäsuren setzt eine Selbstvergewisserung ein, für die wir das „Reisegepäck“aus früheren Zeiten befragen – und feststellen, dass die Fragilität der Welt und die Unsicherheiten menschlicher Existenz, wie wir sie heute erleben, vielen Wahrnehmungen um 1800 erstaunlich ähneln.
Inwieweit ist unser Bild von den Klassikern durch die Rezeptionsgeschichte überlagert, deformiert?
Natürlich sind Goethe und Schiller, Wieland und Herder auch Teil einer Missbrauchsgeschichte über die Jahrhunderte hinweg geworden. Wir wollen Fenster und Türen weit öffnen, um uns dessen mit vereinten Kräften bewusst zu werden. Und uns schließlich selber befragen, wie weit wir selbst als Akteure einer Gebrauchsgeschichte fungieren.
Ist eine ferne Dystopie denkbar, in der die Deutschen nichts mehr von ihren Klassikern wissen wollen?
Sehr oft, wenn wir in der Geschichte auf polemische Attacken, ja geradezu auf einen Hass auf die Literatur, auf die Künste stoßen, erkennen wir dies als einen Indikator für totalitäre Triebkräfte in einer Gesellschaft. Dagegen wehren wir uns heute nicht, indem wir mit heiliger Blässe im Gesicht krampfhaft die Klassiker hochhalten. Sondern wir wollen das Gespräch, die Debatte und gern auch den Streit darüber ermöglichen, ja sogar provozieren.