Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
S tadler verzichtete auf eine Spitze. Dabei hätte er gerne nach der messbaren „Effizienz“eines solchen Überschriften-Erfinders gefragt. Doch er wollte seinen Chef nicht noch weiter provozieren.
Stattdessen deutete er auf die Glaskästen an der Stirnseite. „Mein Arbeitsplatz?“, fragte er zweifelnd.
Böhringer nickte. „Toll, was? Du hast den ganzen Desk im Blick, und wenn du dich mal abschotten willst, lässt du einfach die Jalousien runter.“
Stadlers Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ihn erinnerten die Glaskästen an die Büros in amerikanischen Kriminalfilmen.
„Eine Pauke bekomme ich aber nicht?“
„Eine Pauke?“
„Na ja, ist das nicht ein bisschen wie der Aufseher auf einer Galeere?“Er deutete auf die zwei Reihen Schreibtische. „Ich soll doch die elenden Schreibsklaven dort auf den Ruderbänken antreiben, oder?“
Böhringer blieb stehen. Auch ein paar der Kollegen an den Arbeitsplätzen im Nachrichtenraum hatten die Bemerkung mitbekommen, schließlich sprach Stadler laut und deutlich.
Für ein paar Sekunden schien Böhringer nicht zu wissen, wie er reagieren sollte. Dann lachte er dröhnend los und schlug Stadler auf die Schulter.
„Du bist mir schon einer, Laurenz. Ruderbänke, ich muss schon sagen! Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.“
Die Redakteure, die die Luft angehalten haben und deren Blick zwischen Böhringer und Stadler hin und her ging, lachten erleichtert auf. Sie nickten, tuschelten.
„Komm, ich zeig dir dein Reich“, sagte Böhringer und schob Stadler voran. Er schloss mit einem Ratsch die Jalousien, um sich gegen die neugierigen Blicke vom Großraumbüro abzuschotten. „Das mit den Ruderbänken schafft es aber nicht gerade in die Top Ten der besten
Sprüche zur Mitarbeitermotivierung“, setzte er gallig hinzu.
„Ich nehme an, diese Top Ten muss ich dann auswendig können“, flachste Stadler.
„Ich habe das durchaus ernst gemeint“, sagte Böhringer, mit einem kleinen Spritzer Gift in der Stimme.
„Aber nun sag mal, was werden meine Aufgaben sein“, fragte Stadler, der sich an den Schreibtisch gelehnt hat. Er fühlte sich seltsamerweise vollkommen gelassen und entspannt, obwohl der Graben zwischen ihnen immer tiefer wurde.
„Du wirst von hier aus alle Arbeiten am Tisch koordinieren, du bist, um es mal technisch zu sagen, die Schnittstelle zwischen dem Desk und mir. Damit wirst du zum operativen Blattmacher schlechthin. Wie der Münchner Bote aussieht, hängt ab morgen von dir ab.“
„Ist das nicht ein bisschen viel auf einmal?“Stadler gab sich nicht nur skeptisch, er war es auch.
„Du schaffst das schon“, sagte Böhringer. „Schau, du läufst bis Freitag ohnehin im Doppelpack mit Stephan Kober, deinem Vorgänger. Ein guter Mann: Jung, dynamisch, kompetent, weiß, was er will. Ich mache ihn zum CvD.“
„Und was wird aus Dillinger?“„Joseph verlässt uns auf eigenen Wunsch.“
Stadler nickte. „Gut. Wie wird mein Tagesablauf aussehen?“
„Wie der von jedem anderen auch. Dein Tag beginnt um 10 Uhr mit der Redaktionskonferenz. Du kannst natürlich auch schon früher kommen, das bleibt selbstverständlich dir überlassen. Ich mache das immer so, um schon ein bisschen Informationsvorsprung zu haben. Offiziell ist also um zehn. Während die Kollegen am Desk anfangen, bist du bei mir zur Beratung. Dann überwachst du die Arbeit am Desk. Du kümmerst dich um die Dienstpläne, du machst eine Themenkonferenz, wo ihr auf den Seiten verteilt, was wo erscheinen soll und muss. Du moderierst zwischen Reportern und Blattmachern und triffst im Zweifelsfall die letzte Layout-Entscheidung, du organisierst die Seitenabnahme und du entwickelst Projekte.“
Stadler lächelte. „Hört sich nach einem erfüllten Leben an.“
„Ist es auch. Ich behalte die Richtlinienkompetenz, du steuerst durch den Tag. Oder, um es mit der christlichen Seefahrt zu sagen: Ich bin der
Kapitän und du der erste Offizier. Ich bestimme den Kurs und du sorgst für Ordnung auf der Brücke.“
„Ja, schon verstanden“, sagte Stadler.
„Werde ich noch selbst schreiben?“
Böhringer schüttelte den Kopf. „Nur auf Wunsch, mal hier und da eine Kolumne. Gerade im Feuilleton freut man sich auf deine gelegentliche Mitarbeit. Dort brauchen wir verschiedene Sichten auf die Dinge, aber das weißt du ja.“
Nun, Stadler konnte sich nicht vorstellen, dass die Kollegen, die elf Jahre gut ohne ihn zurechtkamen, Beifall klatschten, wenn er sich wieder einmischte.
„Aber ansonsten musst du nicht mehr schreiben. Keine Themennot mehr, keine Angst vor dem weißen Blatt Papier, kein Zeitdruck mit dem Redaktionsschluss.“
Stadler lachte kurz und trocken auf.
„Kein Zeitdruck mit dem Redaktionsschluss?“Fortsetzung folgt