Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Training, Training, Training
Sportprofessor Ingo Froböse hält die Belastungsklagen der Klubs für Jammern auf hohem Niveau
Essen. Viel Zeit blieb Lars Bender nicht, um das Erlebte zu verarbeiten. „Es ist alles sehr unrhythmisch gewesen in den vergangenen Wochen. Es war mental nicht immer einfach“, sagte der 31-Jährige von Bayer Leverkusen. Die Ausbreitung des Coronavirus, der Lockdown, die Zwangspause und der Neustart der Fußball-Bundesliga, dazu eine Niederlage gegen den FC Bayern im DFB-Pokalfinale. Alles in einem Jahr, dessen zweite Hälfe gerade erst begonnen hat. Schon am kommenden Donnerstag geht es mit dem Europa-League-Rückspiel gegen die Glasgow Rangers weiter. Zieht Leverkusen ins Viertelfinale des Finalturniers in NRW ein, wartet am 10. August in Düsseldorf der FC Getafe oder Inter Mailand, die am Mittwoch in Gelsenkirchen im Achtelfinale aufeinander treffen.
Die Gier sei da, sagt Ex-Nationalspieler Bender. Aber reicht die Kraft? Bayer-Trainer Peter Bosz hat Zweifel. Die Zeit zum Abschalten sei nach dem Pokalspiel gegen Bayern München Anfang Juli zu kurz gewesen, das Programm zu dicht. Seine Spieler stünden vor einer „fast unmöglichen Herausforderung“, so der frühere BVB.-Coach. „Die Spieler werden sehr belastet sein. Und es ist physisch unmöglich, in so vielen Spielen in so kurzer Zeit 90 Minuten Gas zu geben.“
26 Europapokal-Spiele in 19 Tagen
Die Krise hat den Spielplan zusammengestaucht. 26 Europacup-Spiele in 19 Tagen stehen ab August an. Den Anfang macht der VfL Wolfsburg am Mittwoch mit dem EuropaLeague-Rückspiel gegen Schachtjor Donezk, einen Tag später folgen Leverkusen gegen Glasgow und Eintracht Frankfurt gegen den FC Basel. In der Champions League startet wenige Tage später DoubleSieger FC Bayern seine Triple-Mission mit dem Achtelfinal-Rückspiel gegen den FC Chelsea (8. August). Das Finalturnier der ViertelfinalisVerlauf ten wird in Lissabon gespielt, für das Leipzig bereits qualifiziert hat.
Viel Fußball für die Zuschauer vor den TV-Geräten, zu viel für die Spieler? Präventionsexperte Ingo Froböse ist da anderer Meinung: „Die Vereine klagen auf sehr hohem Niveau, denn so viele Pausen wie in diesem Jahr hatten die Spieler noch nie“, sagt der Professor von der Sporthochschule Köln. Die Ruhephasen müssten eine gesunde Balance haben, dürften nicht zu kurz, nicht zu lang sein. EuropapokalStarter wie Bayern München seien deshalb sogar im Vorteil: „Je nach
der Champions League können sie ohne lange Pause in die Bundesliga starten. Die internationalen Turniere haben den Effekt eines Trainingslagers.“
Den Profis von Bayer Leverkusen blieben gerade einmal 17 fußballfreie Tage, um die Corona-Saison zu verarbeiten. Aus wissenschaftlicher Sicht, erklärte Bosz, seien allein elf Tage nötig, um zu entspannen. „Diese Zahl kennt in der deutschen Wissenschaft niemand“, kontert Froböse. „Ich weiß nicht, woher Peter Bosz sie hat. Körperlich befinden sich die Profi-Fußballer in einer normalen Belastungssituation, sie sind schließlich keinen Ironman gelaufen. Gemeint sein könnte die mentale Beanspruchung. Diese ist deutlich träger als die körperliche Beanspruchung.“Das kenne jeder vom Urlaub, sei dieser zu kurz, stelle sich kein Entspannungsgefühl ein.
Den Leiter des Instituts für bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation beschäftigt mehr die Unterbelastung: „Ich mache mir große Sorgen um die Fitness der Spieler. Schon vor der Corona-Pause haben sie 25 bis 30 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit eingebüßt. Das ,Home Office’ bietet keine vernünftigen Trainingssituationen. Die fünf Spiele nach der Pause haben nicht ausgereicht, um das alte Level zu erreichen“, so Froböse. Für Klubs ohne internationalen Wettbewerb wie Schalke oder Dortmund sei die Pause zu lang. Das könnte Folgen für das Meisterschaftsrennen haben. Der BVB, der gestern mit der Vorbereitung begann, geht also bereits mit einem Nachteil in die Saison.
Froböse geht von einem „deutlichen Leistungsabfall im ersten halben Jahr nach dem Saisonstart aus“. Seine Empfehlung: „Training, Training, Training.“Der Rückstand sei schon groß, es gelte jetzt, so schnell wie möglich, die Leistungsfähigkeit zu erhöhen. „Ich würde so oft es geht, die Mannschaft zu einem Trainingslager zusammenziehen und ruhig eine hohe Intensität an den Tag legen.“