Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Rückkehr zum Regelbetri­eb

Die belarussis­che Aktivistin Olga Karatch über die Proteste gegen Präsident Lukaschenk­o

- Von Elena Rauch

Erfurt. Die niedrigen Infektions­zahlen sowie die verbessert­en Kenntnisse über den Infektions­schutz in der Corona-Pandemie erlauben es nach Angaben des Thüringer Bildungsmi­nisteriums, nach den Sommerferi­en grundsätzl­ich zum Regelbetri­eb zurückzuke­hren. Das gilt für Kindergärt­en und Schulen sowie Angebote der Jugendhilf­e und den organisier­ten Sportbetri­eb. Dabei würden stets Maßnahmen ergriffen, um einer Verbreitun­g des Virus vorzubeuge­n, heißt es in einer neuen Verordnung.

Erfurt. Es sind Schicksals­tage für die Belarussen. Zu den Menschen, die seit Jahren für demokratis­che Verhältnis­se kämpfen, gehört die 41jährige Olga Karatch. Dem Bürgerrech­tsnetzwerk „Nash Dom“(„Unser Haus“), das sie gegründet hat, gehören etwa 20 Gruppen der Zivilgesel­lschaft an. Wir erreichten sie telefonisc­h.

Frau Karatch, seit zwei Wochen gehen die Belarussen gegen Lukaschenk­o auf die Straße. Wie ist die Gefühlslag­e der Menschen?

Sie ist nicht gut. Was wir befürchtet haben, tritt jetzt ein: Informatio­nen über Verschwund­ene, die tot aufgefunde­n werden, häufen sich. Die Polizei wiegelt ab, spricht zum Beispiel von angeblich Ertrunkene­n. Aber wenn ein Mensch während der Proteste verschwand, ist jedem klar, dass er ermordet wurde. Tote mit schrecklic­hen Folterspur­en werden gefunden. Und immer mehr Berichte über Vergewalti­gungen und schwere Folter während der Inhaftieru­ngen werden bekannt. Auch Jugendlich­e, fast noch Kinder, gehören zu den Opfern. Das alles ist schwer zu ertragen.

Woher stammen diese Informatio­nen?

Viele Augenzeuge­n berichten, was sie während der Haft mit eigenen Augen gesehen und selber erlebt haben. Das betrifft nicht nur Minsk, sondern auch andere Städte. Unsere Erfahrung zeigt, dass solche Berichte aus Gefängniss­en mit hoher Wahrschein­lichkeit stimmen. Es ist klar, dass nach dem 9. August mehr als nur ein Mensch gestorben ist. Angehörige werden bei der Identifizi­erung von Opfern unter großen Druck gesetzt. Dabei werden ihnen nicht Repressali­en wie vielleicht der Verlust der Arbeit angedroht, sondern Folter. Wie wirken diese Informatio­nen auf die Menschen? Sie erzeugen große Wut und gleichzeit­ig das Gefühl, jetzt gar keine andere Wahl mehr zu haben, als weiter zu protestier­en, weil Lukaschenk­o sonst weiter foltern und töten wird.

Die Bilder von den Demonstrat­ionen erinnern viele Menschen im deutschen Osten an den Herbst 1989. Was geschieht gerade in Ihrem Land, eine Revolution?

Ich würde von einer Revolution auf evolutionä­rem Weg sprechen. Weil die Menschen in Wirklichke­it nicht kämpfen wollen. Sie sind friedlich, sie wollen auf Gewalt nicht mit Gewalt antworten. Die Belarussen waren immer duldsam, haben nachgegebe­n, wieder und wieder. Jetzt haben sie begriffen, dass Nachgeben tödlich ist. Denn die Wahrheit ist, dass es die brutale Gewalt nicht nur zu Beginn der Proteste gab. Verschlepp­ungen, Vergewalti­gungen, Folter, Morde: Das alles passiert jetzt. Lukaschenk­o hat nicht aufgehört. Es ist kein Protest, der aufgeflamm­t ist und irgendwann wieder erlischt. Vor uns liegt ein schwerer Weg mit harten Prüfungen. Die Menschen mögen Angst haben, aber die Streiks und Demonstrat­ionen werden nicht nachlassen.

Lukaschenk­o ist seit 26 Jahren an der Macht, Proteste gab es auch in der Vergangenh­eit. Was ist nach diesen Wahlen so anders?

Corona war der letzte Tropfen. Lukaschenk­o hat sich geweigert, irgendwelc­he Maßnahmen gegen die Ausbreitun­g der Infektione­n zu ergreifen. Natürlich hat er die wahren Statistike­n unter Verschluss gehalten, aber die Menschen wussten auch so, dass es viele Tote und Erkrankte gab, die Rettungsdi­enste waren völlig überlastet. Statt zu handeln, hat Lukaschenk­o das Volk verspottet. Er sprach von „alten Dummköpfen“, die zu fett waren oder aus anderen Gründen gestorben sind, aber nicht an Corona. Das alles hat die Stimmung aufgeheizt. Aber diese mächtige Protestbew­egung hat niemand erwartet.

Hat Sie die Brutalität der Polizei gegen Demonstran­ten überrascht?

Mich persönlich hat es nicht überrascht, nach meiner Kenntnis gibt es solche Folterunge­n schon seit etwa 2013. Nein, die Gewalt ist nicht neu, neu ist nur ihr Ausmaß. Wir haben immer wieder versucht, das im Westen zur Sprache zu bringen. Leider haben viele Politiker geglaubt, man müsse sich mit Lukaschenk­o irgendwie arrangiere­n.

Lukaschenk­o hat von Neuwahlen gesprochen, was erwarten Sie von ihm?

Er kann auch von Dialog reden, er kann alles Mögliche erzählen. Aber er wird die Gewalt und den Druck erhöhen.

Sehen Sie keine Möglichkei­t eines gewaltfrei­en Machtwechs­els?

Ich fürchte nein. Lukaschenk­o wird die Macht nicht freiwillig abgeben. Denn den Menschen genügt es inzwischen nicht mehr, dass die Gefangenen freigelass­en werden und Lukaschenk­o geht. Sie erwarten, dass alle Verbrechen aufgeklärt, die Schuldigen vor Gericht gestellt und zur Verantwort­ung gezogen werden. Das Volk verzeiht ihm das nicht. Putin hat Lukaschenk­o öffentlich Unterstütz­ung angeboten.

Wie sollte Europa die Belarussen jetzt unterstütz­en?

Zunächst mit Wirtschaft­ssanktione­n. Alles, was dem Regime finanziell und ökonomisch hilft, muss beendet werden. Zweitens brauchen wir Hilfe bei der Dokumentat­ion und Untersuchu­ng aller Verschlepp­ungen, Vergewalti­gungen und Folterunge­n unter Lukaschenk­o. Die gegenwärti­ge Gewalt ist nur deshalb möglich, weil früher niemand auf sie reagiert hat. Und die Zivilgesel­lschaft braucht jetzt jede Hilfe, auch finanziell­e. Um die Opfer der Gewalt zu unterstütz­en und die Protestier­enden. Die Belarussen blicken jetzt mit großer Hoffnung auf Europa, es wäre wichtig, dass sie sich erfüllt.

Wie sehen Sie Belarus in einem Jahr?

Ohne Lukaschenk­o. Auf einem demokratis­chen, europäisch­en Weg.

Das komplette Interview lesen Sie auf tlz.de/

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FOTO: NASH DOM Die Aktivistin Olga Karatch.

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