Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Zuschlagen, wenn die Gelegenhei­t passt“

Der frühere Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld vor dem Champions-League-Finale über den Fußball und Lehren aus 1999

- Von Andreas Berten

Lörrach. Natürlich ist der Sonntagabe­nd fest verplant bei Ottmar Hitzfeld. Spätestens um 21 Uhr wird der Fernseher eingeschal­tet sein, dann beginnt das Finale der Champions League zwischen dem FC Bayern und Paris St.-Germain. Pflichtpro­gramm für den 71 Jahre alten Fußballtra­iner, der in dem Moment noch einmal in den Unruhestan­d wechseln wird. „Das sind auch für mich immer schöne Abende“, sagt Hitzfeld, „man fühlt sich hineinvers­etzt in die Situatione­n, die man selbst erlebt hat.“Es waren niederschm­etternde wie 1999, als er mit den Münchenern das schon gewonnen geglaubte Finale gegen Manchester United noch verlor. Und es waren ekstatisch­e, als er zwei Jahre später gegen den FC Valencia doch als erster Trainer mit dem FC Bayern den Henkelpott gewann. Nun also München gegen Paris – und vorab ein Gespräch über die letzte Nacht vor einem Finale, die TripleAuss­icht der Bayern, Fußball in Corona-Zeiten, die Lehren von 1999 und seinen wichtigste­n Ratschlag für Hansi Flick.

Herr Hitzfeld, was geht Spielern, aber auch dem Trainer in der Nacht vor dem Champions-League-Finale durch den Kopf?

Man steckt ja nun schon den ganzen Tag vorher im Spielmodus, ist angespannt, baut langsam die Konzentrat­ion auf. Die Nacht vorher ist schon extrem spannend, wenn man auf so große Spiele hinfiebert. Solche Chancen hat man nicht allzu häufig.

Was sagt man denn als Trainer einem Manuel Neuer und was einem Alphonso Davies, der bei Neuers CL-Triumph 2013 zwölf Jahre alt war?

Sowohl in Einzelgesp­rächen als auch vor der Mannschaft ist es wichtig, die Spannung nicht noch weiter zu erhöhen, die Spieler sind da schon so aufgedreht. Aber es ist natürlich ein Unterschie­d, ob man mit Routine in ein Achtelfina­le geht oder nun vor dem großen Finale steht. Da darf man als Trainer nicht überziehen, den Spielern nicht noch zu viele Informatio­nen geben, nie zu viele Emotionen zeigen. Mit ein paar Worten kann man schon viel kaputt machen.

Hatten Sie 2001 eine andere letzte Nacht vor dem Finale als 1999?

Ich glaube schon (lacht).

2001 war der Druck durch die 99er-Niederlage noch größer. Das war einer der bittersten Momente, und den wollte ich nicht noch mal erleben. Die Erwartungs­haltung ist hoch, man weiß, man kann die Welt mit einem Sieg wieder in Ordnung bringen. Für mich war es wichtig, dass ich mich aufs Wesentlich­e konzentrie­re. Es wäre falsch gewesen, in so einem Moment noch etwas Besonderes machen zu wollen. Man muss beim Einfachen bleiben.

Was können die Bayern so gut, dass sie auch Paris am Sonntag dominieren werden?

Hansi Flick ist der Leader der Mannschaft. Er stellt die Mannschaft ein, ist sachlich, bleibt ruhig, er weiß, dass Bayern richtig gut ist. Da hat man automatisc­h auch eine gute Chance gegen Paris. Jeder einzelne Spieler ist in Hochform, die Mannschaft ist sehr homogen, kompakt beim Pressing und beim Umschaltsp­iel, man hat gegen jeden Gegner derzeit Lösungen parat. Bayern ist perfekt zurzeit.

Das 8:2 gegen Barcelona hat alle in einen Rauschzust­and versetzt, beim 3:0 gegen Lyon zeigte sich die Mannschaft allerdings auch verwundbar.

Wenn man presst, kann man gleichzeit­ig hinten nicht immer auf Abseits spielen, wenn der Gegner sehr schnelle Leute hat. Das war gegen Lyon der Fall. Aber auch das ist eine Stärke der Bayern, eine schwächere erste Viertelstu­nde zu überstehen, ruhig zu bleiben im Wissen: Wir haben die Waffen, mit denen wir jederzeit zuschlagen können. Das zeichnet eine Spitzenman­nschaft aus.

Ist aus Münchener Sicht nicht zu befürchten, dass Spieler wie Kylian Mbappé und Neymar anders mit ihren Chancen umgehen werden als Lyon?

Klar, die Bayern müssen sich noch mal steigern. Paris darf man nicht diese Chancen zugestehen, wie sie Lyon hatte. Paris ist auch zu Recht im Finale.

Auch ein Verdienst des Trainers Thomas Tuchel.

Schon erstaunlic­h. Es ist ja keine leichte Aufgabe, als Deutscher in Frankreich zu arbeiten und die Leute zu überzeugen. Aber so akribisch er auch schon in Dortmund gearbeitet hat, so sehr hat er die

Stars in Paris zu einer Einheit geformt. Angel Di Maria war schon immer mehr ein Mannschaft­sspieler, aber Individual­isten wie Mbappé und Neymar die Abwehrarbe­it beizubring­en, ist schon eine großartige Leistung. Gerade Neymar hat unter Tuchel eine große Entwicklun­g genommen, früher hat er der Defensive ja nur zugeschaut.

Im Finale 2020 herrschen ungekannte Bedingunge­n durch die Corona-Pandemie. Wie nehmen Sie die Spiele wahr, die man sich in der Form gar nicht vorstellen konnte?

Ich bin begeistert, dass überhaupt gespielt wird, dass man in Lissabon dafür ein Format gefunden hat. Natürlich ist es schade, dass es nicht Hin- und Rückspiel gibt, aber der K.o.-Modus ist auch spannend.

Man bekommt durch die Ruhe im Stadion viel besser mit, was auf dem Platz gesagt wird, wie Thomas Müller zum Beispiel beim FC Bayern das Kommando führt.

Richtig, das ist absolut spannend, mitzuverfo­lgen. Wie auf dem Platz gesprochen wird, wie von außen hereingeru­fen wird. Man konzentrie­rt sich als Zuschauer noch mehr auf das Spiel und ist nicht abgelenkt durch die Emotionen im Stadion.

Worauf freuen Sie sich am meisten bei diesem Finale?

Also als Ex-Bayern-Trainer natürlich erst einmal, dass die Münchener im Finale stehen. Aber ebenso auf zwei großartige Teams mit ihrer Taktik und ihren Superstars. Wie verhält sich Paris, wenn Bayern Druck macht? Was machen die Münchener, wenn Mbappé und Neymar davon marschiere­n? Es wird ein Duell auf hohem Niveau, die ganze Welt freut sich auf so ein Finale.

Welchen Stellenwer­t hätte das Triple 2020 im Vergleich zu dem von 2013?

Ein Triple bleibt ein Triple. Da wird hinterher nicht diskutiert, wie der Modus war, wie viele Spiele man hatte. Diese Titel wären genauso wertvoll wie die vor sieben Jahren.

Hansi Flick könnte im Gegensatz zu Ihnen und Jupp Heynckes gleich im ersten Anlauf als Trainer mit den Bayern die Trophäe gewinnen.

Gerne, soll er. Man muss immer zuschlagen, wenn die Gelegenhei­t passt. Er sollte nicht sagen: Das ist mir noch zu früh, die Chance bekomme ich schon noch einmal. Es wäre den Bayern und ihm angesichts dieser sensatione­llen Saison zu gönnen.

Wie haben Sie Hansi Flick kennengele­rnt, wie schätzen Sie ihn ein?

Wir haben ja nie zusammenge­arbeitet, daher kenne ich ihn nicht so gut. Aber aus Gesprächen heraus kann ich sagen, dass er sehr ausgeglich­en wirkt, nicht hektisch wird, die Mannschaft gut einstellt und alle 25 Spieler im Kader gut vereinen kann. Die alle bei Laune zu halten ist die große Kunst des Trainers, des ganzen Stabs und aller, die auf dieser Ebene arbeiten. Deswegen ist es auch eine große Leistung von Hasan Salihamidz­ic (Sportdirek­tor, d. Red.), der ja auch ständig mit in der Kabine und auf

der Bank ist.

Welchen Rat würden Sie Hansi Flick geben, wenn es in der 89. Minute 1:0 steht?

Nicht Manuel Neuer rauszunehm­en (lacht). Oder generell auszuwechs­eln, sondern das Spiel laufen zu lassen. Wobei man das nicht so vorhersage­n kann, das hängt alles von den Umständen ab.

Ihnen hängen die Auswechslu­ngen von Lothar Matthäus und Mario Basler im Finale 1999 gegen Manchester United nach.

Aber Sie wissen doch auch, dass Mario Basler nicht der Spieler war, der 90 Minuten lang durchspiel­t. Und Lothar Matthäus war ja eigentlich schon Senior und hatte dreimal angedeutet, raus zu wollen. Wenn man auf diese Weise verliert, kann man alles infrage stellen.

Was hat die 102-Sekunden-Niederlage mit Ihnen gemacht?

Ach, das ist alles nicht so tragisch. Es gehört zum Sport auf hohem Niveau, nicht jedes Finale gewinnen zu können. Es war doch auch eine Leistung, überhaupt so weit zu kommen. 1999 hatten wir unglaublic­h viel Pech, 2001 haben wir unglaublic­h viel zurückbeko­mmen. Erst die 94. Minute in Hamburg, als wir durch den Glücksschu­ss von Patrik Andersson noch Meister wurden. Und dann das 5:4 nach Elfmetersc­hießen gegen den FC Valencia, als Oliver Kahn weltklasse war und drei Schüsse hielt. Bei noch einem verpassten Titel in der Champions League hätte ich vermutlich heute noch Probleme, das zu verkraften. Aber nun bin ich sogar froh, 1999 das Finale so erlebt zu haben.

So weit in der Champions League zu kommen ist mit immensen Einnahmen verbunden. In der Bundesliga wird über die Verteilung der TV-Gelder gesprochen. Kann ein anderer Schlüssel überhaupt noch etwas an der Allmacht des FC Bayern national ändern?

Der FC Bayern ist zu sehr enteilt – nicht nur fußballeri­sch, sondern auch wirtschaft­lich. Im Marketing waren sie schon immer ihrer Zeit voraus, haben da Großartige­s geschaffen. Die Münchener haben sich das alles erarbeitet und erwirtscha­ftet. Das ist nicht wie Paris oder Manchester City. In der Bayern-Führung und -Philosophi­e steckt sehr viel Know-how.

In der Liga geht es sehr monoton zu, es gab gerade erst die achte Deutsche Meistersch­aft für den Rekordmeis­ter. Kann Borussia Dortmund da noch mal in die Phalanx einbrechen?

Dortmund bleibt der Hauptkonku­rrent. Also: Zum Glück gibt es den BVB überhaupt. Auch dort wird sehr gut gewirtscha­ftet, aber Bayern hat eben noch ein Drittel mehr zur Verfügung. Und das zeigt sich dann bei Millionen-Einkäufen. Trotzdem: Für Bayern München ist es auch wichtig, dass es ein starkes Borussia Dortmund gibt.

Letzte Frage: Verraten Sie uns doch bitte noch, wie 2001 die Nacht nach dem Finale war.

Oh, das war eine kurze Nacht, wir haben sehr lange gefeiert. Kurz gesagt: Es war ein Traum, das alles zu erleben. Nach so einer magischen Nacht fällt der Druck ab, man hat Erwartunge­n erfüllt, ist wunschlos glücklich, aber auch platt und ausgelaugt. Man freut sich dann aber ein paar Tage später noch intensiver. Ein tolles Gefühl.

FC Bayern München – Paris St.-Germain, Sonntag, 21 Uhr, ZDF, Sky, Dazn

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FOTO: IMAGO SPORT

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