Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Europäisches Bahnnetz kommt nicht voran
China baut sein Hochgeschwindigkeitsnetz rasant aus. In Europa wird man darauf noch lange warten müssen
Berlin. Er war in den vergangenen Monaten der Schauplatz von Demokratieprotesten, ist derzeit wegen Corona geschlossen und symbolisiert dennoch die chinesische Verkehrswende: der Hochgeschwindigkeitsbahnhof West-Kowloon in Hongkong. Die Architekten haben das Gebäude wie eine stahlblaue Welle gestaltet, die sich beinahe über die Kaimauer des alten Hafens ins Meer ergießt.
Die Gleisanlagen im Untergrund markieren den Endpunkt eines Bahnnetzes, das von Harbin an der russischen Grenze über vier Klimazonen reicht. Im Normalbetrieb fahren die Züge von West-Kowloon durch bis zum Bahnhof Peking West. Wer hier einsteigt, braucht erst 2400 Kilometer weiter nördlich wieder auszusteigen. Dazwischen liegen im Fall der Expresszüge nur sechs Stopps.
In China, dessen Fläche doppelt so groß ist wie die der EU und das dreimal so viele Einwohner hat, lässt sich ein Kontinent bequem und mit gutem Wlan per Bahn durchqueren. Die Strecke Hongkong–Peking ist länger als die von Madrid nach Berlin. Im vermeintlich rückständigen Asien lässt sich diese Distanz in nur neun Stunden überbrücken, in Europa brauchen Reisende dafür rund 24 Stunden. Stockholm–Rom, vergleichbar lang, dauert gar 40 Stunden.
Das kommunistische China macht den etablierten Industrieländern derzeit vor, wie Alternativen zum Flugverkehr gehen. Das Land hat 35.000 Kilometer Hochgeschwindigkeitsstrecke in nur zwölf Jahren in die Landschaft geklotzt. Bis 2035 sollen weitere 10.000 Kilometer hinzukommen. Alle Metropolen des Landes sind dann bequem miteinander verknüpft. Sogar Urumqi im Westen des Landes ist angebunden. Es liegt bereits näher an Europa als an Peking.
In Europa plagen sich die Bahnen trotz des größten Netzes der Welt damit, erst einmal eine einheitliche Bahntechnik und Regeln für einen „Trans-Europa-Express“zu schaffen, dem Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) während der deutschen Ratspräsidentschaft den Weg ebnen will. Fahrten quer durch Europa sind zwar heute schon möglich. Doch haben die einzelnen Länder immer noch unterschiedliche technische Voraussetzungen, obwohl eine eigens eingerichtete Behörde die Grundlagen für einheitliche Normen schafft. Ausgaben in dreistelliger Milliardenhöhe können sich die Europäer schlicht nicht leisten.
„Ich glaube, dass jeder das Ziel hat, dass der Bahnverkehr attraktiver wird über Grenzen in Europa“, sagte Scheuer. Doch auch sein Trans-Europa-Express wird auf den langen Strecken keine ernsthafte Konkurrenz zum Flugzeug sein. Die EU definiert Hochgeschwindigkeit mit einem Tempo von mehr 200 Kilometern und mehr in der Stunde. Bezogen auf die 2780 Kilometer zwischen Berlin und Lissabon käme dies einer Fahrzeit von mindestens 14 Stunden gleich, wenn der Zug keinen Zwischenstopp einlegen würde.
Die Erfahrungen zeigen, dass Fluggäste erst umsteigen, wenn sie mit der Bahn maximal vier Stunden unterwegs sind. Dazu kommen insbesondere in Deutschland überlastete Netze, die immer wieder für Verzögerungen sorgen. Bis 2030 will die Bundesregierung die Kapazitätsprobleme lösen. So sieht der „Schienenpakt“des Bundes vor, dass Fernzüge zwischen großen Städten künftig im Halbstundentakt fahren. Und dennoch: Asiatische Verhältnisse wird es in Europa auf lange Zeit wohl nicht geben.
Chinas Regierung stützt mit Bauprojekten die Konjunktur
Der chinesische Masterplan für die Erschließung der gesamten Fläche durch Hochgeschwindigkeitszüge folgt dem Slogan „Vier kreuz, vier quer“. Die Nord-Süd-Strecken schneiden an strategisch ausgewählten Umsteigebahnhöfen die Ost-West-Trassen. Seitdem wird gebuddelt und gebaut – unbeirrt im Zeitplan auch durch schweres Terrain wie Gebirge, Sümpfe und Sandwüsten. Jede Wirtschaftskrise feuert die Aktivität nur noch mehr an. Denn wenn die Arbeitslosigkeit zu steigen droht, beschleunigt die Regierung
den Ausbau noch. Bauprojekte regen die Konjunktur an.
Das chinesische Eisenbahnwunder hat zwei Grundlagen, die sich von den Bedingungen in Europa unterscheiden: die Kommandowirtschaft plus unbegrenzten Kredit. Die Bahngesellschaft gehört als Behörde dem Staat. Daran haben auch verschiedene privatwirtschaftliche Anstriche nichts geändert. Sie baut, was die Politik vorgibt. In einem Land, das unter der Qin-Dynastie im dritten vorchristlichen Jahrhundert
schon die Spurbreite für Ochsenkarren vereinheitlicht hat, sind technische Standards – anders als in Europa – kein Thema.
Die China State Railway Group (CR) erhält als reiner Staatsbetrieb jederzeit beliebige Summen von den Staatsbanken. Sie gibt dazu Anleihen aus, die wegen der staatlichen Rückendeckung beste Bewertungen erhalten. Von dieser Möglichkeit hat sie reichlich Gebrauch gemacht. Der Schuldenstand der CR liegt derzeit bei knapp 690 Milliarden Euro (5,5 Billionen Yuan). Damit handelt es sich vermutlich um das am höchsten verschuldete Unternehmen auf dem Planeten. Die Verbindlichkeiten des griechischen Staates sind nur halb so hoch.
Verluste der chinesischen Bahngesellschaft sind in der Theorie zwar unerwünscht, in der Praxis jedoch völlig egal. Im ersten Quartal
2020 hat das Unternehmen 7,5 Milliarden Euro Verlust ausgewiesen
(61 Milliarden Yuan). Im vergangenen Jahr kam zwar ein Minigewinn heraus, doch bei Weitem nicht genug, um wirklich Schulden abzubauen. Kein Wunder. Von 18 Hauptstrecken betreibt CR bislang elf mit Verlust.