Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Warum wächst unser Parlament?
Der Koalitionsausschuss sucht nach einem Rezept gegen die Aufblähung des Bundestages. Es droht eine parteipolitische Hängepartie
Berlin. Nie hatte der Bundestag so viele Abgeordnete wie heute: 709. Falls die Parteien nicht gegensteuern, könnten es nach der Bundestagswahl 2021 sogar mehr werden. Nach vielen gescheiterten Versuchen wollen Union und SPD am Dienstag in einem Koalitionsausschuss einen neuen Anlauf zu einer Reform des Wahlrechts nehmen. Die wichtigsten Fragen im Überblick.
Legt der Bundestag die Größe nicht fest?
Laut Gesetz hat das Parlament 598 Mitglieder. Zu den direkt gewählten Abgeordneten in 299 Wahlkreisen kommen genauso viele Volksvertreter hinzu, die über die Landeslisten ihrer Parteien einziehen – gemäß dem jeweiligen Ergebnis. Das Problem ist eine deutsche Besonderheit: Überhangmandate.
Was ist ein Überhangmandat?
Ein Überhangmandat entsteht, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise direkt holt, als es ihr nach der Gesamtheit ihrer Stimmen zustünde. Bei der Bundestagswahl 2017 bekam die CSU 38,8 Prozent der Stimmen. Ihr standen 38 Sitze zu. Da sie alle 45 Wahlkreise direkt gewonnen hatte, wurden es sieben Abgeordnete mehr – das nennt man Überhangmandate. Auch die CDU errang 36 und die SPD drei überzählige Mandate. Macht zusammen 46. Um zu verhindern, dass solche Parteien stärker vertreten sind, als es dem Gesamtergebnis
entspricht, sieht das seit 2013 gültige Wahlrecht Ausgleichsmandate vor. Die 46 Überhangmandate hatten 65 Ausgleichsmandate zur Folge – jetzt stimmten die Kräfteverhältnisse wieder.
Erinnern wir uns: Der Bundestag sollte 598 Mitglieder haben, 709 sind es tatsächlich. 111 mehr oder die Summe aus 46 Überhang- und 65 Ausgleichsmandaten. Und diese Zahl kann 2021 steigen. Wenn man die Verteilung der Mandate nach Umfragen simuliert, steigt die Zahl der Sitze auf bis zu 822.
Wie kann man einer weiteren Aufblähung vorbeugen?
Grüne, FDP und Linke schlagen vor, die Zahl der Wahlkreise auf 250 zu reduzieren und Überhangmandate in einem Land mit Listenplätzen in einem anderen Land zu verrechnen. Gewinnt die CDU in Baden-Württemberg Überhangmandate, ziehen entsprechend weniger Listenkandidaten aus einem anderen Verband in den Bundestag ein, zum Beispiel aus der NRW-CDU. Die CSU kann sich zurücklehnen, sie tritt nur in Bayern an. Weh tut ihr schon eher der Ansatz der AfD: Eine Partei soll nach den AfD-Vorstellungen in einem Bundesland höchstens so viele Direktmandate erhalten, wie es dem Zweitstimmenanteil dort entspricht.
Erinnern wir uns an das Beispiel der CSU 2017: 38 Sitze standen ihr zu, 45 errang sie direkt. Die AfD würde also das 39. Direktmandat und alle folgenden kappen. Die SPD hält an der Regelgröße von 598 fest, würde aber zusätzlich eine Obergrenze von 690 einziehen.
Das bedeutet: Bis 690 Sitze würde sich nichts ändern; es bliebe bei den gängigen Mechanismen, bei Übergang- und Ausgleichsmandaten. Ab dem 691. Sitz würde die SPD ähnlich vorgehen wie Grüne, Linke und FDP – sie würde Überhangmandate über die Landeslisten derselben Partei ausgleichen. Außerdem wünscht sich die SPD eine Vorschrift, wonach Wahllisten abwechselnd mit Frauen und Männern besetzt werden. Es sei „das einzige Modell, das eine verlässliche Begrenzung für den nächsten Bundestag garantiert“, sagte SPD-Fraktionsmanager Carsten Schneider unserer Redaktion.
Was will die Union?
CDU und CSU konnten sich lange nicht verständigen, bis sie im Sommer ein Konzept vorlegten. Die Union will wie FDP, Linke und Grüne die Zahl der Wahlkreise reduzieren, aber bescheidener: von 299 auf 280. Auch sie will Überhangmandate einer Partei teilweise mit Listenmandaten in anderen Ländern ausgleichen. Zudem schlägt sie vor, dass sieben Überhangmandate nicht ausgeglichen werden.
Kommt die Verständigung?
Dass die Konkurrenz der CDU-Idee zustimmt, sieben Überhangmandate nicht auszugleichen, ist kaum vorstellbar. SPD-Mann Schneider lehnt das als „einseitigen parteipolitischen Vorteil“ab. Die drei Elemente sind aber bereits ein Kompromisspaket zwischen CDU und CSU. Würde Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus das Paket aufschnüren, würden ihm die eigenen Leute womöglich die Gefolgschaft verweigern.
Falls SPD und Union zusammenkommen, müssten sie mit den Oppositionsparteien verhandeln. Denn es ist ein ungeschriebenes Gesetz, die Spielregeln der Demokratie nur im größtmöglichen Konsens zu ändern. Nach einer Einigung müsste die Gesetzgebung schnell verabschiedet werden, damit der Bundeswahlleiter die Wahlkreise zuschneiden kann. Und das, obwohl bereits Kandidaten für die Bundestagswahl aufgestellt werden.
Die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht hat eigentlich empfohlen, ein Jahr vor einer Wahl keine Regeln mehr zu ändern. Eine echte Reform ist unwahrscheinlich. Eine echte Reform ist unwahrscheinlich. Schlicht „zu spät“, sagt SPD-Chef Norbert Walter-Borjans.