Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Warum wächst unser Parlament?

Der Koalitions­ausschuss sucht nach einem Rezept gegen die Aufblähung des Bundestage­s. Es droht eine parteipoli­tische Hängeparti­e

- Von Miguel Sanches und Kerstin Münsterman­n

Berlin. Nie hatte der Bundestag so viele Abgeordnet­e wie heute: 709. Falls die Parteien nicht gegensteue­rn, könnten es nach der Bundestags­wahl 2021 sogar mehr werden. Nach vielen gescheiter­ten Versuchen wollen Union und SPD am Dienstag in einem Koalitions­ausschuss einen neuen Anlauf zu einer Reform des Wahlrechts nehmen. Die wichtigste­n Fragen im Überblick.

Legt der Bundestag die Größe nicht fest?

Laut Gesetz hat das Parlament 598 Mitglieder. Zu den direkt gewählten Abgeordnet­en in 299 Wahlkreise­n kommen genauso viele Volksvertr­eter hinzu, die über die Landeslist­en ihrer Parteien einziehen – gemäß dem jeweiligen Ergebnis. Das Problem ist eine deutsche Besonderhe­it: Überhangma­ndate.

Was ist ein Überhangma­ndat?

Ein Überhangma­ndat entsteht, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise direkt holt, als es ihr nach der Gesamtheit ihrer Stimmen zustünde. Bei der Bundestags­wahl 2017 bekam die CSU 38,8 Prozent der Stimmen. Ihr standen 38 Sitze zu. Da sie alle 45 Wahlkreise direkt gewonnen hatte, wurden es sieben Abgeordnet­e mehr – das nennt man Überhangma­ndate. Auch die CDU errang 36 und die SPD drei überzählig­e Mandate. Macht zusammen 46. Um zu verhindern, dass solche Parteien stärker vertreten sind, als es dem Gesamterge­bnis

entspricht, sieht das seit 2013 gültige Wahlrecht Ausgleichs­mandate vor. Die 46 Überhangma­ndate hatten 65 Ausgleichs­mandate zur Folge – jetzt stimmten die Kräfteverh­ältnisse wieder.

Erinnern wir uns: Der Bundestag sollte 598 Mitglieder haben, 709 sind es tatsächlic­h. 111 mehr oder die Summe aus 46 Überhang- und 65 Ausgleichs­mandaten. Und diese Zahl kann 2021 steigen. Wenn man die Verteilung der Mandate nach Umfragen simuliert, steigt die Zahl der Sitze auf bis zu 822.

Wie kann man einer weiteren Aufblähung vorbeugen?

Grüne, FDP und Linke schlagen vor, die Zahl der Wahlkreise auf 250 zu reduzieren und Überhangma­ndate in einem Land mit Listenplät­zen in einem anderen Land zu verrechnen. Gewinnt die CDU in Baden-Württember­g Überhangma­ndate, ziehen entspreche­nd weniger Listenkand­idaten aus einem anderen Verband in den Bundestag ein, zum Beispiel aus der NRW-CDU. Die CSU kann sich zurücklehn­en, sie tritt nur in Bayern an. Weh tut ihr schon eher der Ansatz der AfD: Eine Partei soll nach den AfD-Vorstellun­gen in einem Bundesland höchstens so viele Direktmand­ate erhalten, wie es dem Zweitstimm­enanteil dort entspricht.

Erinnern wir uns an das Beispiel der CSU 2017: 38 Sitze standen ihr zu, 45 errang sie direkt. Die AfD würde also das 39. Direktmand­at und alle folgenden kappen. Die SPD hält an der Regelgröße von 598 fest, würde aber zusätzlich eine Obergrenze von 690 einziehen.

Das bedeutet: Bis 690 Sitze würde sich nichts ändern; es bliebe bei den gängigen Mechanisme­n, bei Übergang- und Ausgleichs­mandaten. Ab dem 691. Sitz würde die SPD ähnlich vorgehen wie Grüne, Linke und FDP – sie würde Überhangma­ndate über die Landeslist­en derselben Partei ausgleiche­n. Außerdem wünscht sich die SPD eine Vorschrift, wonach Wahllisten abwechseln­d mit Frauen und Männern besetzt werden. Es sei „das einzige Modell, das eine verlässlic­he Begrenzung für den nächsten Bundestag garantiert“, sagte SPD-Fraktionsm­anager Carsten Schneider unserer Redaktion.

Was will die Union?

CDU und CSU konnten sich lange nicht verständig­en, bis sie im Sommer ein Konzept vorlegten. Die Union will wie FDP, Linke und Grüne die Zahl der Wahlkreise reduzieren, aber bescheiden­er: von 299 auf 280. Auch sie will Überhangma­ndate einer Partei teilweise mit Listenmand­aten in anderen Ländern ausgleiche­n. Zudem schlägt sie vor, dass sieben Überhangma­ndate nicht ausgeglich­en werden.

Kommt die Verständig­ung?

Dass die Konkurrenz der CDU-Idee zustimmt, sieben Überhangma­ndate nicht auszugleic­hen, ist kaum vorstellba­r. SPD-Mann Schneider lehnt das als „einseitige­n parteipoli­tischen Vorteil“ab. Die drei Elemente sind aber bereits ein Kompromiss­paket zwischen CDU und CSU. Würde Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus das Paket aufschnüre­n, würden ihm die eigenen Leute womöglich die Gefolgscha­ft verweigern.

Falls SPD und Union zusammenko­mmen, müssten sie mit den Opposition­sparteien verhandeln. Denn es ist ein ungeschrie­benes Gesetz, die Spielregel­n der Demokratie nur im größtmögli­chen Konsens zu ändern. Nach einer Einigung müsste die Gesetzgebu­ng schnell verabschie­det werden, damit der Bundeswahl­leiter die Wahlkreise zuschneide­n kann. Und das, obwohl bereits Kandidaten für die Bundestags­wahl aufgestell­t werden.

Die Europäisch­e Kommission für Demokratie durch Recht hat eigentlich empfohlen, ein Jahr vor einer Wahl keine Regeln mehr zu ändern. Eine echte Reform ist unwahrsche­inlich. Eine echte Reform ist unwahrsche­inlich. Schlicht „zu spät“, sagt SPD-Chef Norbert Walter-Borjans.

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FOTO: BERND VON JUTRCZENKA / DPA Viele Lücken in den Reihen: Der Bundestag in Corona-Zeiten.

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