Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Vom Tischler zum KPD-Funktionär
Urenkel von Walter Ulbricht fragt sich, wer war dieser Mann, über den die Familie kaum sprach? Biografie reicht nur bis ins Jahr 1945
Berlin. Er raucht und trinkt nicht, er wandert gern und nennt seine erste Tochter in einem Brief „Mein lieber Wildfang“. Mehrere Jahrzehnte nach dem Tod des einstigen DDRStaatschefs Walter Ulbricht (18931973) hat sich ein Urenkel auf die Suche nach dem Leben des Mannes begeben, der oft als Spalter, Mauerbauer, Lügner oder Spitzbart tituliert wurde. Was war er für ein Mensch, über den in der Familie kaum gesprochen wurde, fragt sich Autor Florian Heyden in dem Buch „Walter Ulbricht – Mein Urgroßvater“, das gerade im Berliner Eulenspiegel-Verlag erschienen ist.
Heyden, der in der Schweiz lebt und als Manager arbeitet, hat seinen Urgroßvater nicht mehr selbst kennengelernt, er wurde 1980 geboren. Laut Verlag hat der Nachfahre in deutschen, russischen und britischen Archiven recherchiert sowie Angehörige befragt. Doch es geht nicht um Ulbrichts Zeit als Politfunktionär in der DDR, die Betrachtung endet mit dessen Rückkehr aus der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg.
Urenkel Heyden präsentiert auf rund 350 Seiten einen gründlich recherchierten Exkurs zur Entwicklung Deutschlands seit der Jahrhundertwende sowie den Aufstieg Ulbrichts vom gelernten Tischler zum kämpferischen KPD-Funktionär, der Reichstagsabgeordneter wird, wegen Hochverrats aus Deutschland ausgebürgert wird und im Schützengraben aufseiten der Roten Armee deutsche Soldaten zum Aufgeben aufruft.
Der Berufsrevolutionär ist immer auf dem Sprung zum nächsten Einsatz. Geboren in Leipzig, sei Ulbrichts Leben ein ewiger Wettkampf zwischen Privatem und Pflichterfüllung gewesen, schreibt Heyden. Fast immer habe die Partei gewonnen. „Sein demütiger Fleiß mündete in Gleichgültigkeit gegenüber den eigenen Gefühlen“, resümiert der Urenkel. „Die Massen mobilisieren“– das habe zu seinen Lieblingsworten gehört.
Und trotzdem: Drei Frauen, zwei Töchter, eine Adoptivtochter gehöMoskau ren zum Leben des Funktionärs mit Spitzbart und Fistelstimme als Folge einer Kehlkopferkrankung, der sein sächsisches Idiom nie ablegte. Von seiner ersten Frau Martha trennt sich Ulbricht schon 1925, in lernt er die französische Journalistin Rosa kennen, von beiden Frauen hat er eine Tochter. Dann tritt dort die Kommunistin Lotte Kühn in sein Leben, sie wird später die First Lady der DDR. Die erste Ehe wird erst 1949 geschieden, das neue Ehepaar Ulbricht adoptiert eine Tochter. Es wird kein glückliches Familienleben.
In der DDR steigt Ulbricht zum ersten Mann im Staate auf, er führt die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands und den Staatsrat. 1961 wird unter Führung Ulbrichts die Berliner Mauer hochgezogen, die die deutsche Teilung bis 9. November 1989 zementiert. 1973 stirbt Ulbricht, zuvor entmachtet von den eigenen Genossen. Ausgerechnet
Ziehsohn Erich Honecker wird der Nachfolger.
Im Postskriptum des Buches werden Details deutlich, die zu DDRZeiten kaum bekannt gewesen sein dürften. Die Ulbrichts unterstützen finanziell Ex-Frau Martha in Leipzig. Der Haushalt des Politiker-Paares in Berlin-Pankow wird von der Schwester Lotte Ulbrichts geführt. Ulbricht habe auf Umwegen Verbindungen zu den Töchtern in Lübeck und Paris gehalten, heißt es – während die Genossen seiner Partei keine Westkontakte haben durften. Die Verbindung Ulbrichts zu seinem in den USA lebenden Bruder und seiner Schwester in Bad Segeberg in Westdeutschland liegen hingegen auf Eis.