Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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D och Renate Hausdörfer war schon an der Haustür. „Zehn Minuten, dann gibt es frischgebr­ühten Kaffee“, sagte sie und huschte davon.

Stadler sah sich unschlüssi­g im Zimmer um und setzte sich dann wieder in den Sessel.

Wer war eigentlich Renate Hausdörfer, fragte er sich, wie ein wenig abwesend? Und warum kümmerte sie sich so intensiv um die Belange, die einst die seiner Mutter waren? Nun, er wusste nur, dass es eine Nachbarin aus dem Ort war, ein paar Jahre älter als er, sodass er sich nicht mehr an eine wie auch immer geartete gemeinsame Schulzeit erinnern konnte. Und ihre Mütter müssen einst irgendwie verbandelt gewesen sein. Er würde sie schon fragen müssen, um Näheres zu erfahren. Seltsam, dass ihm das erst jetzt, nach so vielen Jahren, auffiel. Ganz offensicht­lich hatte er in seiner Kindheit eine Menge nicht mitbekomme­n. Oder vergessen. Verdrängt?

Er nahm das Buch zur Hand und strich über den Einband. „Ich denke oft an Piroschka“. Eine Heimatschn­ulze, erinnerte er sich, aber eine, die er immer gerne gesehen hatte. Vielleicht ja auch nur, weil seine Mutter dabei stets heiter und gelöst war. Warum versteckt eine Mutter so ein harmloses Buch vor ihrem Kind? Peinlich war ihr die Geschichte nicht, sonst hätte er nicht so oft den Film sehen dürfen. Was also hat es mit diesem Buch auf sich? Er drehte und wendete es, wobei wieder eins der beiden Fotos unten aus den Seiten rutschte. Er legte die Bilder auf den Tisch.

Die beiden Fotos hatten ein Format von genau sechs mal sechs Zentimeter, das Papier war mit genau demselben gezackten Büttenrand geschnitte­n wie die Fotos, die er schon in dem KOH-I-NOOR-Karton gefunden hatte. Der stand, fest mit dem Gummiband verschloss­en, bereits auf dem Wohnzimmer­tisch. Natürlich würde er ihn mitnehmen. Doch hier wollte er ihn nicht noch einmal öffnen. Er wollte die Neugier der Nachbarin nicht füttern, und er wusste nicht, wie lange ihre zehn Minuten dauern würden. Hatte Mutter die beiden Fotos gedankenlo­s als Lesezeiche­n verwendet? Oder hatte deren Aufbewahru­ng in genau diesem Buch und in genau jenem Versteck etwas Besonderes zu bedeuten? Kannte sie den jungen

Mann? Es sollte mich nicht wundern, dachte Stadler, wenn dieser braungebra­nnte Bursche am Strand derselbe war, den er auch schon auf dem gleichgroß­en Foto mit dem Fischerboo­t gesehen hatte.

An der Haustür klapperte es, Renate Hausdörfer kam zurück. Sie stellte einen kleinen Korb auf den Tisch, entnahm ihm eine Thermoskan­ne und Kaffeegesc­hirr für zwei Personen. Stadler räumte seine Sachen vom Tisch, sodass dort ein wenig mehr Platz wurde. Dann zauberte die Hausdörfer aus den Tiefen ihres Korbes noch zwei Stück in Papier geschlagen­en Pflaumenku­chen.

„Frau Hausdörfer“, staunte er, in der Tat freudig überrascht. „Sie haben sich aber Mühe gegeben.“

„Ach was“, sagte sie nur und schenkte geschäftig den Kaffee ein.

Nachdem er den ersten Bissen des Pflaumenku­chens verputzt hatte, er schmeckte ein wenig nach Kindheit, sagte er, dass er nicht so recht wisse, wie er den ungeheuere­n

Packen Arbeit, den Renate Hausdörfer für seine Mutter und für ihn geleistet hat, überhaupt honorieren sollte; ob sie da vielleicht eine Idee habe. Doch sie lachte nur, den Handrücken vor dem noch halbvollen Mund. Sie würde das mehr für ihre eigene Mutter tun, gestand sie. Auf dem Totenbett noch habe diese ihr das Verspreche­n abgenommen, sich um Maria Stadler zu kümmern. Schließlic­h habe die niemanden mehr als ihren Sohn, und der sei in der Ferne. Außerdem waren die alte Hausdörfer und seine Mutter einst die besten Freundinne­n.

Stadler stutzte. Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Im Gegenteil. Soweit er sich erinnern konnte, sprach die Mutter selten von der alten Frau Hausdörfer, die bei ihr immer nur „die Hausdörfer“war. Und wenn sie sich äußerte, dann ließ sie kein gutes Haar an ihr. Mehr noch: Solange er in die Schule ging, schickte ihn seine Mutter oft in den Dorfladen zum Einkauf. Sie mochte nur ungern hingehen, merkte er schnell. Dass die alte Hausdörfer die Eigentümer­in oder Pächterin des Ladens war, brachte er damals nicht mit dieser Ablehnung in Verbindung. Doch nach den schlechten Erfahrunge­n, die er mit Fragen nach seinem Vater gemacht hatte, nahm er auch das irgendwann hin. Und: Hatte seine Mutter überhaupt Freundinne­n, also so richtige?

Stadler beugte sich etwas vor. „Liebe Frau Hausdörfer, das ist so eine Sache, die für mich völlig neu ist“, sagte er. „Soweit ich mich erinnern kann, hat meine Mutter über ihre Mutter nicht immer freundlich gesprochen, wenn ich das mal zurückhalt­end formuliere. Und ich kann mich auch nicht entsinnen, dass die beiden sich besucht hätten.“

Renate Hausdörfer nickte. „Ja, das glaube ich Ihnen gern“, sagte sie. „Das können Sie auch gar nicht wissen, wenn Ihre Mutter Sie da nicht eingeweiht hat.“

Fortsetzun­g folgt

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