Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Sieht so die Konzert-Zukunft aus?
Der Musiker Tim Bendzko tritt im Namen der Wissenschaft auf. Besuch in Leipzig bei einem Corona-Experiment
Leipzig. Sechs Lichtkegel zerschneiden die Dunkelheit. Die Scheinwerfer schwenken von links nach rechts und von rechts nach links. Es scheint, als würden sie in der Arena Leipzig nach jemandem suchen. Das Licht trifft von der Bühne aus auf Reihen blauer Sitze – fast 8000 Plätze. Die Sitze sind leer. Es ist kurz vor 10 Uhr morgens.
Das Publikum steht draußen im Regen. Etwa 1500 Menschen sind gekommen, um die Musik des Sängers Tim Bendzko zu hören. Das Konzert ist heute Teil einer wissenschaftlichen Studie, durchgeführt von der Universitätsmedizin Halle. Es gibt Partikel filternde Schutzmasken und ein Desinfektionsmittel, das unter UV-Licht leuchtet. „Hygienestewards“laufen umher und messen Fieber. Vor dem Zutritt zur Halle müssen die Menschen versichern, dass sie in den vergangenen zwei Wochen nicht in einem Corona-Risikogebiet waren.
Mehr noch: Einen Tag vor dem Konzert haben die Besucher einen Corona-Test abgegeben. Am Samstagmorgen bekamen sie das Ergebnis. Nur einer von 1900 Tests von Besuchern und Mitarbeitern sei positiv gewesen, erklären die Organisatoren. Die Frau durfte nicht anreisen.
Die Studie soll zu einem Neuanfang beitragen
Die Besucher des Testkonzerts sind zwischen 18 und 50 Jahre alt. Ältere wurden aus Sicherheitsgründen ausgeschlossen. Die Menschen sind diszipliniert. Alle tragen Masken. Fast alle tragen sie richtig. Sie wollen helfen. Sie sind neugierig. Und sie wollen sich amüsieren.
Linda Schmitt-Thees und ihre Schwester Sarah sind aus Jülich und Duisburg angereist. Sie lieben Konzerte. Ihre Bekannten, die mit Theater ihren Lebensunterhalt verdienen, haben sie motiviert. „Es hängen viele Arbeitsplätze an der Veranstaltungsbranche“, sagt Linda Schmitt-Thees. Sie hofft, dass es bald Hoffnung für die Branche gibt. Vielleicht auch durch dieses Konzert. „Der Schaden ist groß genug.“
Darum geht es. Um die Frage, wie es weitergeht, für Sportler, Künstler, Fans und Firmen. 2019 gab es drei Millionen Veranstaltungen mit etwa 423 Millionen Teilnehmern. Die Branche setzte 130 Milliarden Euro um. Dann kam Corona.
Die Studie, die zu einer Art Neuanfang beitragen soll, heißt „Restart
19“. Der ganze Name ist anders, komplizierter: „Risikoanalyse zur Corona-Übertragung bei Sport- und Kulturveranstaltungen“. Sie kostet
900.000 Euro, bezahlt von den Ländern Sachsen und Sachsen-Anhalt.
In Leipzig hat die Studie auch Gegner. Nach Angaben von Michael Gekle, Dekan der Medizinischen Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, habe es im Vorfeld einige Störfeuer geben. Das Hygienekonzept stand in der Kritik. Die Behörden aber, erklärt Gekle, haben es mit abgestimmt und genehmigt.
Wie können Indoor-Veranstaltungen stattfinden, ohne dass sich Besucher infizieren? Dazu wollen
Studienleiter Stefan Moritz und das Team aus bis zu 20 Wissenschaftlern Aussagen treffen. Im Herbst sei mit ersten Ergebnissen zu rechnen. „Es wird valide Informationen geben für die Entscheider aus der Politik“, sagt Gekle. Es gehe um Daten aus der realen Welt, nicht um Weltanschauung. Mithilfe der Informationen könnte eine aufgeklärte Gesellschaft Chancen und Risiken abwägen. Infektiologe Moritz sagt, es gehe um Grundlagen. „Aber ich denke, dass wir – basierend auf unseren Ergebnissen – Vorschläge machen werden, wie man das Infektionsrisiko bei Indoor-Veranstaltungen reduzieren kann.“
Stefan Moritz steht jetzt in einem neongelben T-Shirt auf der Bühne in der Leipziger Arena und erklärt dem Testpublikum, was gleich passieren wird. Drei Szenarien lässt er mit den 1500 Besuchern durchproben. Bei Szenario eins gibt es keine Unterschiede zu Konzerten vor Corona, die anderen beiden haben ein Sicherheitskonzept bekommen, die verglichen werden sollen. Mehr Abstand, viel mehr Abstand, kontrollierte Einlässe. 17 Kontakte in der nahen Umgebung, fünf, keinen.
Alle Besucher tragen FFP2-Masken und Tracker, die zunächst Probleme bereiten. Die kreditkartengroßen Geräte sammeln Informationen im Millisekundentakt. Zusammen mit den Daten, die Sensoren von der Hallendecke aus gewinnen, sollen sie darüber Aufschluss geben, wie die Menschen sich in der Halle bewegen, wo sie sich nahe kommen und begegnen. Die Daten ergeben anschließend ein Modell.
Ein weiteres Modell soll zeigen, wie die Aerosole fliegen, diese kleinsten Partikel, die vermutlich auch eine wichtige Rolle spielen bei der Verbreitung von Corona. Wo strömen sie bei verschiedener Belüftung entlang und wie kann man sie beeinflussen?
Stefan Moritz dirigiert mit ausgebreiteten Armen die Besucher. Sie sollen enger zusammenrücken. Dort aufstehen, hier sich hinsetzen. „Ich will alle ganz nah hier haben“, sagt er. Und in der Pause sollten die Besucher auf jeden Fall an die Cateringstände vor der Halle gehen. „Wir wollen wissen, was beim Anstellen passiert“, sagt Moritz. Selbst der Gang zur Toilette geschieht heute zum Wohle der Wissenschaft.
Tim Bendzko singt dreimal 20 Minuten. Immer wieder verlässt er die Bühne für die unterschiedlichen Szenarien. Dass sein Konzert etwas von einer Versuchsanordnung hat, habe ihn nicht gestört, wird er später sagen. Er habe Autokinokonzerte überstanden, „da ist das Konzert hier gefühlt ein erster Fortschritt“. Und tatsächlich stehen einige Fans auf und winken mit den Armen. Die Bässe wummern, das Licht blinkt.
„Applaus bei Internetkonzerten bezahlt keine Miete“
Bendzko findet, dass es dringend einen Plan braucht, wie die Branche weitermachen könnte. Sonst sei irgendwann nichts mehr übrig von ihr. Applaus bei Internetkonzerten bezahle keine Miete. Natürlich sei Sicherheit das Wichtigste, sagt der 35-Jährige. Aber er sei auch dafür, nach Lösungen zu suchen.
Linda und Sarah Schmitt-Thees hatten Spaß. Dass die Besucher in Szenario eins sehr eng beieinandersaßen, sei ungewohnt gewesen – nach so vielen Monaten der Mindestabstände. „Aber man konnte mal wieder Emotionen von anderen spüren“, so Sarah Schmitt-Thees. Mitgesungen haben die Schwestern auch – in die Maske hinein.