Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Der Staat muss zeigen, wer das Gewaltmonopol hat“
Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) hält die Corona-Proteste teilweise für verfassungsfeindlich
Berlin. Christine Lambrecht sucht die persönliche Auseinandersetzung, auch in der Corona-Pandemie. Daher findet das Interview mit unserer Redaktion nicht per Video statt, sondern in ihrem Büro – mit offenen Fenstern und ausreichend Abstand.
Deutschland wird über den November hinaus im Lockdown bleiben. Wie viel Ausnahmezustand verkraftet unser Land, Frau Lambrecht? Christine Lambrecht:
Die aktuellen Einschränkungen sind für den Monat November beschlossen und nicht darüber hinaus. Warten wir die Entwicklung der Fallzahlen in dieser Woche ab. Es ist wichtig, die Infektionszahlen genau zu beobachten – und nicht ins Blaue hinein etwas zu vereinbaren. Aktuell scheint es, dass der Anstieg gestoppt werden konnte. Aber es gibt eben noch keine nachhaltige Absenkung. Je stärker wir die Anzahl unserer Kontakte verringern, desto wirksamer können wir die Pandemie eindämmen. Wir haben es gemeinsam in der Hand.
Eine Runde von Regierungschefs setzt grundlegende Freiheitsrechte außer Kraft – ohne den Bundestag zu beteiligen. Wo bleibt der Aufschrei der Justizministerin?
Einspruch: Der Bundestag hat die Rechtsgrundlage für diese Einschränkungen beschlossen, das Infektionsschutzgesetz. Natürlich ist es eine besondere Situation, wenn Grundrechte eingeschränkt werden müssen, noch dazu so intensiv. Aber es dient einzig und allein dem Zweck, Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Die gerichtlichen Entscheidungen haben uns darin bestätigt, dass dieser Weg akzeptabel ist. Und jetzt haben wir die Generalklausel des Infektionsschutzgesetzes durch einen neuen Paragrafen präzisiert.
Was sagen Sie jenen, die von Ermächtigungsgesetz sprechen?
Das ist ein infamer Vergleich, der die Opfer des Naziregimes verhöhnt und für den mir jedes Verständnis fehlt! Wie kann man das Infektionsschutzgesetz auch nur ansatzweise mit dem Ermächtigungsgesetz der Nazis vergleichen? Damals wurden faktisch die Rechte des Parlaments und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Es folgte eine Welle der brutalen Verfolgung von Andersdenkenden. Heute stärken wir die Rechte des Bundestags und zeigen klar auf, welche Einschränkungen unter welchen Voraussetzungen möglich sind.
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, nennt das Infektionsschutzgesetz einen „Persilschein“für die Bundesregierung.
Das Infektionsschutzgesetz ist gerade kein „Persilschein“. In dem neuen Paragrafen 28a werden die besonders eingriffsintensiven Schutzmaßnahmen konkret benannt und die Voraussetzungen für ihre Anordnung festgelegt. Deswegen kann ich nicht nachvollziehen, dass diese Kritik kommt.
Das wird die Gastronomen und Künstler, die gerade ihre Existenzgrundlage verlieren, nicht beruhigen.
Die wirtschaftlichen Härten, die für einzelne Wirtschaftszweige entstehen, mildern wir ab, so gut es irgendwie geht – zuletzt durch die Novemberhilfen. Aber noch einmal: Es geht darum, Leben und Gesundheit zu schützen. Und wenn ich sehe, dass andere Länder eine viel höhere Todesrate haben, fühle ich mich in unserem Kurs bestärkt.
Der Widerstand in der Bevölkerung wird aggressiver, in mehreren Städten sind Demonstrationen eskaliert. Welche Antwort hat der Staat?
Unser Handeln findet in der Bevölkerung nach wie vor sehr große Zustimmung. Es sind wenige, aber besonders laute Gruppen, die hiergegen protestieren. Die Versammlungsfreiheit ist ein sehr hohes Gut in unserem Land. Gerade in Krisen müssen die Bürger die Möglichkeit haben, ihre Meinung bei Versammlungen kundzutun – allerdings nicht mit Gewalt. In Leipzig ist Gewalt ausgeübt worden gegen Polizisten und Journalisten. Das dürfen wir als Rechtsstaat nicht hinnehmen. Und wenn es Auflagen gibt wie Masken zu tragen oder Abstand zu halten, müssen sie konsequent durchgesetzt werden. Wenn sie nicht eingehalten werden, muss die Versammlung aufgelöst werden wie am Mittwoch in Berlin. Der Staat muss zeigen, wer in diesem Land das Gewaltmonopol hat. Es kann nicht sein, dass der Staat resigniert, wenn viele Demonstranten kommen, um bewusst die Regeln zu verletzen. Dann müssen eben mehr Polizisten eingesetzt werden.
Unter die „Querdenken“-Demonstranten mischen sich Rechtsextremisten und Anhänger der Verschwörungsideologie QAnon. Wird die Bewegung zu einem Fall für den Verfassungsschutz?
Diese Einordnung müssen die Verfassungsschutzbehörden treffen. Wenn man aber liest, was auf manchen Plakaten steht, gibt das einem schon zu denken. Was bei einigen der sogenannten Querdenker zu beobachten ist, entspricht nicht unserer Verfassungsordnung. Es stellt sich die Frage, ob die Bewegung ein Sammelbecken für Rechtsextremisten, Antisemiten und Verschwörungstheoretiker geworden ist. Die Geschichte vom einfachen, besorgten Bürger, der auf die Straße geht, kann ich vielfach nicht mehr nachvollziehen. Wer sich Parolen wie „Berlin muss brennen“auf die Fahnen schreibt, verfolgt ein anderes Ziel, als gegen ein Infektionsschutzgesetz zu demonstrieren. Solche Leute zielen auf unseren Staat und unsere demokratische Grundordnung.
„Querdenker“sind auch in Polizei und Justiz zu finden. Nehmen Sie das hin?
Wir haben das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Das gilt auch für Staatsanwälte, Lehrer oder Polizisten. Beamte haben aber auch die Pflicht, sich durch ihr gesamtes Verhalten zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Grundgesetzes zu bekennen. Auf keinen Fall ist hinnehmbar, wenn die Grenze zu strafbarem Handeln überschritten wird. Deswegen muss man sich jeden Einzelfall genau anschauen.
„Das Infektionsschutzgesetz ist gerade kein Persilschein.“