Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
(Rede-) Schlacht um Pandemiegesetz
Bundestag ändert Rechtsgrundlage für Corona-Auflagen. Polizei setzt Wasserwerfer gegen Demonstranten ein
Berlin. Schon am frühen Mittwochmorgen strömen sie mit Plakaten, Bannern und Tröten Richtung Reichstagsgebäude – für die Sicherheitskräfte ist es eine schwierige Mischung: Familien mit Kindern, Frauen im Rentenalter, fundamentale Christen. Aber auch aggressive Verschwörungstheoretiker, zahlreiche bekannte Köpfe der rechtsextremen Szene, gewaltbereite Krawallmacher. Die Gegner der Corona-Maßnahmen und der Staat – sie prallen an diesem Mittwoch hart aufeinander. Ein Großaufgebot der Polizei, mehr als 2000 Polizisten aus etlichen Bundesländern, reichte nicht aus – am Ende setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um Demonstranten auseinanderzutreiben, die sich nicht an die Hygiene-Auflagen halten wollten.
Die Bilanz der Eskalation: Mehr als hundert Festnahmen, darunter die eines AfD-Abgeordneten. Parlamentarier, die sich im Reichstagsgebäude von Demonstranten bedrängt sahen. Ein Minister, der auf den Fluren des Parlaments mit einer „Querdenkerin“aneinandergeriet. Dazu eine heftige Debatte im Parlament über die Novelle des Infektionsschutzgesetzes, vom Beginn einer Diktatur ist die Rede.
Hitler-Vergleiche und Virologen im Sträflingsanzug
Erst am Mittag beginnt die Debatte im Bundestag – im Kern geht es um eine Klarstellung: Die Gesetzesnovelle räumt den Regierenden in pandemischen Lagen besondere Befugnisse zum Schutz der Bevölkerung ein. Der Bundestag hat keine direkte Mitsprache bei den Maßnahmen, entscheidet aber mit seiner Mehrheit darüber, wann eine pandemische Lage eintritt und wann sie endet. Das Gesetz nennt konkrete Fälle, in denen die Politik Freiheiten der Bürger einschränken darf (siehe Kasten). Doch diejenigen, die an diesem Mittwoch rund um das Reichstagsgebäude dagegen protestieren, sehen darin keine Stärkung von Rechtsstaat und Demokratie, sondern ihr Ende.
Als der erste Redner, der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, im Bundestag ans Pult tritt, haben sie sich zu Tausenden versammelt, in Sichtund Hörweite des Bundestags. Von einem „Ermächtigungsgesetz“war im Vorfeld die Rede – in Anlehnung an jenes Gesetz von 1933, mit dem die Nationalsozialisten die Demokratie abschafften und die Macht an sich rissen. Einige Demonstranten laufen mit Schildern herum, auf denen die Kanzlerin mit Adolf Hitler verglichen wird. Eine Gruppe ist mit Plakaten unterwegs, die bekannte Gesichter der Pandemie wie den Virologen Christian Drosten und den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach in Sträflingskleidung zeigen.
Das Virus dagegen sieht hier kaum jemand als Bedrohung. Abstand? Hält fast niemand. Masken? Tragen die wenigsten. Weil das aber die Auflage für die Versammlung in Sichtweite des Reichstagsgebäudes ist, erklärt die Polizei diese um kurz nach zwölf Uhr für beendet und fordert die Teilnehmer auf, zu gehen. Die denken gar nicht daran – auch nicht, als die beiden Wasserwerfer die Menge über ihre Köpfe hinweg beregnen, immer wieder. In einer zähen, stundenlangen Auseinandersetzung wird die Polizei die Demonstrierenden Meter um Meter zurücktreiben, bis sich die Menge am frühen Abend schließlich auflöst. Es kommt zu Rangeleien, Demonstranten gehen zu Boden.
Im Plenum spricht Gauland von „Gesundheitsdiktatur“
Im Plenum attackiert die AfD das Gesetz hart: Fraktionschef Alexander Gauland nennt es „die größte Grundrechteeinschränkung in der Geschichte der Bundesrepublik“. Dem Land stehe eine „Gesundheitsdiktatur“bevor. Baumann spricht von einer „Ermächtigung der Regierung“.
Auch andere Oppositionsparteien kritisieren den Gesetzentwurf der Regierung, wenn auch milder. Die Parlamente müssten das letzte Wort haben, nicht die Regierungen, lautet die Forderung aus der Opposition. Das Gesetz stelle „den Regierenden einen Freifahrtschein aus“, sagt FDP-Fraktionschef Christian Lindner. Der Linke-Abgeordnete Jan Korte bemängelt: „Jeder Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte bedarf der Zustimmung oder Ablehnung durch den Bundestag.“Gleichwohl sei dies aber „kein Gesetz, das in die Diktatur führt“. Ein deutlicher Seitenhieb auf Gauland.
Als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ans Rednerpult tritt, kommt es zu einer Unterbrechung: AfD-Abgeordnete zeigen Schilder, auf denen ein Grundgesetz mit Trauerflor zu sehen ist. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) fordert die AfD auf, die Plakate „unverzüglich“wieder zu entfernen. Laut Geschäftsordnung sind Spruchbänder verboten.
Als die Aktion beendet ist, kann Spahn weiterreden. Er spricht sich vehement für das Gesetz aus. „Das Virus ist dynamisch, daher müssen wir es auch sein“, sagt Spahn. Steigende Infektionszahlen würden früher oder später zu einem Kontrollverlust bei exponentiellem Wachstum führen. Der Gesundheitsschutz sei nicht absolut. „Aber wir haben uns entschieden, dass er ein relativ stärkeres Gewicht bekommt.“Mit den Stimmen von Union, SPD und Grünen erhält das Gesetz im Bundestag eine Mehrheit. FDP, Linke und AfD stimmen dagegen. Auch der Bundesrat verabschiedet es später.
Draußen am Spreeufer, in Sichtweite des Reichstagsgebäudes, tummeln sich am Nachmittag noch immer Hunderte Infektionsschutzgegner. Eine Gruppe von AfD-Politikern kommt aus dem Plenum nach draußen, um sie zu begrüßen. Unter ihnen ist auch AfD-Mann Karsten Hilse, der am Morgen vorübergehend festgenommen worden war. Er war ohne Maske in einem Bereich mit Maskenpflicht unterwegs und hatte sich der Aufforderung der Polizei widersetzt, sie aufzusetzen. Hilse stellt sich an das Geländer über der Spree und reckt beide Daumen nach oben. Die Botschaft: Wir sind auf eurer Seite.
Drinnen im Bundestag spielt sich unterdessen eine denkwürdige Szene ab: Mithilfe von Besucherausweisen haben sich Infektionsschutzgegner Zugang zum Gebäude verschafft. Eine Frau geht Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) an, filmt ihn dabei mit dem Handy: „Sie sind völlig abgehoben, Sie haben überhaupt kein Gewissen!“Altmaier steigt in den Aufzug, die Frau kommt beinahe hinterher. Die Bannmeile, der Sicherheitsraum für Parlamentarier, ist in diesem Moment nur noch Theorie.