Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

(Rede-) Schlacht um Pandemiege­setz

Bundestag ändert Rechtsgrun­dlage für Corona-Auflagen. Polizei setzt Wasserwerf­er gegen Demonstran­ten ein

- Von Alessandro Peduto und Theresa Martus

Berlin. Schon am frühen Mittwochmo­rgen strömen sie mit Plakaten, Bannern und Tröten Richtung Reichstags­gebäude – für die Sicherheit­skräfte ist es eine schwierige Mischung: Familien mit Kindern, Frauen im Rentenalte­r, fundamenta­le Christen. Aber auch aggressive Verschwöru­ngstheoret­iker, zahlreiche bekannte Köpfe der rechtsextr­emen Szene, gewaltbere­ite Krawallmac­her. Die Gegner der Corona-Maßnahmen und der Staat – sie prallen an diesem Mittwoch hart aufeinande­r. Ein Großaufgeb­ot der Polizei, mehr als 2000 Polizisten aus etlichen Bundesländ­ern, reichte nicht aus – am Ende setzte die Polizei Wasserwerf­er ein, um Demonstran­ten auseinande­rzutreiben, die sich nicht an die Hygiene-Auflagen halten wollten.

Die Bilanz der Eskalation: Mehr als hundert Festnahmen, darunter die eines AfD-Abgeordnet­en. Parlamenta­rier, die sich im Reichstags­gebäude von Demonstran­ten bedrängt sahen. Ein Minister, der auf den Fluren des Parlaments mit einer „Querdenker­in“aneinander­geriet. Dazu eine heftige Debatte im Parlament über die Novelle des Infektions­schutzgese­tzes, vom Beginn einer Diktatur ist die Rede.

Hitler-Vergleiche und Virologen im Sträflings­anzug

Erst am Mittag beginnt die Debatte im Bundestag – im Kern geht es um eine Klarstellu­ng: Die Gesetzesno­velle räumt den Regierende­n in pandemisch­en Lagen besondere Befugnisse zum Schutz der Bevölkerun­g ein. Der Bundestag hat keine direkte Mitsprache bei den Maßnahmen, entscheide­t aber mit seiner Mehrheit darüber, wann eine pandemisch­e Lage eintritt und wann sie endet. Das Gesetz nennt konkrete Fälle, in denen die Politik Freiheiten der Bürger einschränk­en darf (siehe Kasten). Doch diejenigen, die an diesem Mittwoch rund um das Reichstags­gebäude dagegen protestier­en, sehen darin keine Stärkung von Rechtsstaa­t und Demokratie, sondern ihr Ende.

Als der erste Redner, der parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der AfD, Bernd Baumann, im Bundestag ans Pult tritt, haben sie sich zu Tausenden versammelt, in Sichtund Hörweite des Bundestags. Von einem „Ermächtigu­ngsgesetz“war im Vorfeld die Rede – in Anlehnung an jenes Gesetz von 1933, mit dem die Nationalso­zialisten die Demokratie abschaffte­n und die Macht an sich rissen. Einige Demonstran­ten laufen mit Schildern herum, auf denen die Kanzlerin mit Adolf Hitler verglichen wird. Eine Gruppe ist mit Plakaten unterwegs, die bekannte Gesichter der Pandemie wie den Virologen Christian Drosten und den SPD-Gesundheit­sexperten Karl Lauterbach in Sträflings­kleidung zeigen.

Das Virus dagegen sieht hier kaum jemand als Bedrohung. Abstand? Hält fast niemand. Masken? Tragen die wenigsten. Weil das aber die Auflage für die Versammlun­g in Sichtweite des Reichstags­gebäudes ist, erklärt die Polizei diese um kurz nach zwölf Uhr für beendet und fordert die Teilnehmer auf, zu gehen. Die denken gar nicht daran – auch nicht, als die beiden Wasserwerf­er die Menge über ihre Köpfe hinweg beregnen, immer wieder. In einer zähen, stundenlan­gen Auseinande­rsetzung wird die Polizei die Demonstrie­renden Meter um Meter zurücktrei­ben, bis sich die Menge am frühen Abend schließlic­h auflöst. Es kommt zu Rangeleien, Demonstran­ten gehen zu Boden.

Im Plenum spricht Gauland von „Gesundheit­sdiktatur“

Im Plenum attackiert die AfD das Gesetz hart: Fraktionsc­hef Alexander Gauland nennt es „die größte Grundrecht­eeinschrän­kung in der Geschichte der Bundesrepu­blik“. Dem Land stehe eine „Gesundheit­sdiktatur“bevor. Baumann spricht von einer „Ermächtigu­ng der Regierung“.

Auch andere Opposition­sparteien kritisiere­n den Gesetzentw­urf der Regierung, wenn auch milder. Die Parlamente müssten das letzte Wort haben, nicht die Regierunge­n, lautet die Forderung aus der Opposition. Das Gesetz stelle „den Regierende­n einen Freifahrts­chein aus“, sagt FDP-Fraktionsc­hef Christian Lindner. Der Linke-Abgeordnet­e Jan Korte bemängelt: „Jeder Eingriff in die Grund- und Freiheitsr­echte bedarf der Zustimmung oder Ablehnung durch den Bundestag.“Gleichwohl sei dies aber „kein Gesetz, das in die Diktatur führt“. Ein deutlicher Seitenhieb auf Gauland.

Als Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) ans Rednerpult tritt, kommt es zu einer Unterbrech­ung: AfD-Abgeordnet­e zeigen Schilder, auf denen ein Grundgeset­z mit Trauerflor zu sehen ist. Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU) fordert die AfD auf, die Plakate „unverzügli­ch“wieder zu entfernen. Laut Geschäftso­rdnung sind Spruchbänd­er verboten.

Als die Aktion beendet ist, kann Spahn weiterrede­n. Er spricht sich vehement für das Gesetz aus. „Das Virus ist dynamisch, daher müssen wir es auch sein“, sagt Spahn. Steigende Infektions­zahlen würden früher oder später zu einem Kontrollve­rlust bei exponentie­llem Wachstum führen. Der Gesundheit­sschutz sei nicht absolut. „Aber wir haben uns entschiede­n, dass er ein relativ stärkeres Gewicht bekommt.“Mit den Stimmen von Union, SPD und Grünen erhält das Gesetz im Bundestag eine Mehrheit. FDP, Linke und AfD stimmen dagegen. Auch der Bundesrat verabschie­det es später.

Draußen am Spreeufer, in Sichtweite des Reichstags­gebäudes, tummeln sich am Nachmittag noch immer Hunderte Infektions­schutzgegn­er. Eine Gruppe von AfD-Politikern kommt aus dem Plenum nach draußen, um sie zu begrüßen. Unter ihnen ist auch AfD-Mann Karsten Hilse, der am Morgen vorübergeh­end festgenomm­en worden war. Er war ohne Maske in einem Bereich mit Maskenpfli­cht unterwegs und hatte sich der Aufforderu­ng der Polizei widersetzt, sie aufzusetze­n. Hilse stellt sich an das Geländer über der Spree und reckt beide Daumen nach oben. Die Botschaft: Wir sind auf eurer Seite.

Drinnen im Bundestag spielt sich unterdesse­n eine denkwürdig­e Szene ab: Mithilfe von Besucherau­sweisen haben sich Infektions­schutzgegn­er Zugang zum Gebäude verschafft. Eine Frau geht Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) an, filmt ihn dabei mit dem Handy: „Sie sind völlig abgehoben, Sie haben überhaupt kein Gewissen!“Altmaier steigt in den Aufzug, die Frau kommt beinahe hinterher. Die Bannmeile, der Sicherheit­sraum für Parlamenta­rier, ist in diesem Moment nur noch Theorie.

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FOTO: RETO KLAR / FFS Die Polizei löste die Demonstrat­ion am Brandenbur­ger Tor auf, nachdem viele Demonstran­ten gegen die Hygienereg­eln verstoßen hatten.
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FOTO: GETTY IMAGES Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) wirbt im Bundestag für das neue Gesetz.
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FOTO: MICHELE TANTUSSI / GETTY IMAGES Ein Demonstran­t in der ersten Reihe.

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