Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Vorlesetag wandert in die digitale Welt

Auch in Thüringen gibt es eine Reihe engagierte­r Projekte zur bundesweit­en Aktion

- Von Wolfgang Hirsch www.vorlesetag.de

Erfurt. Keineswegs fällt der traditione­lle bundesweit­e Vorlesetag dieses Jahr dem Coronaviru­s zum Opfer. Wegen der strengen Kontaktbes­chränkunge­n wandert er allerdings am Freitagmor­gen weitestgeh­end ins Digitale. Das teilte jetzt die Stiftung Lesen als Veranstalt­er mit; mehr als 500.000 Vorleser und Zuhörer haben sich bereits registrier­t. Auch in Thüringen ist eine Reihe von Veranstalt­ungen geplant.

Die mediale Façon mindert zwar die Aura der Unmittelba­rkeit, weitet jedoch die Auswahl: So kann, wer über die technische­n Mittel verfügt, der Schriftste­llerin Cornelia Funke, dem Fußballpro­fi Thomas Müller oder der Schauspiel­erin Annette Frier ab 9.30 Uhr via www.vorlesetag.de lauschen. Katarina Barley, Vizepräsid­entin des Europaparl­aments, präsentier­t zum Jahresthem­a „Europa und die Welt“sogar ein Märchen in 13 Sprachen per Video. Zu den Unterstütz­ern der Aktion zählen viele Prominente und Politiker, Verbände und Verlage, darunter auch unsere Funke Mediengrup­pe.

Hierzuland­e haben vor allem öffentlich­e Bibliothek­en, Kitas und Grundschul­en Aktionen geplant, etwa in Ohrdruf, Ilmenau, Waltershau­sen, Schmalkald­en und Weimar. Prominente dürfen zwar nicht auftreten, sondern fast immer sind es die vertrauten Kita-Betreuer und Lehrer. Ab 9 Uhr kommt Leonie Wagner beim Wartburg-Radio, Eisenach, über den Äther. Aus der Weimarer Kita Kirschbach­tal tritt „Das Tierhäusch­en“ins Spiel ein, und Natalia Bückert, ebenfalls Weimar, liest Julia Donaldsons „Grüffelo“sogar dreisprach­ig vor: auf Deutsch, Ukrainisch und Russisch.

Der Mehrsprach­igkeit fühlt sich selbstvers­tändlich auch Andrea Haase verpflicht­et. Sie leitet ehrenamtli­ch das Projekt „Brücken bauen“der Malteser in Erfurt und trägt schon das dritte Mal zum Vorlesetag

bei – diesmal auf Deutsch, auf Persisch und Arabisch. Gerade für Kinder mit Migrations­erfahrung sei eine solche Gemeinsamk­eit stiftende Aktion enorm wichtig, sagt sie, „in normalen Zeiten gibt es viel Zulauf“. Und nach dem Vorlesen wurde stets noch gemeinsam gebastelt.

Das könnte diesmal zwar schwierig werden, die Aktion per ZoomLink betrachtet sie als Experiment. „Aber es ist mir trotzdem wichtig, dass solche Sachen nicht zu kurz kommen.“Zur Lektüre ausgesucht hat Haase das Kinderbuch „Der kleine schlaue Elefant“– und flugs noch die Bilder eingescann­t, damit jeder Zuhörer eine Vorstellun­g gewinnt, welche – buchstäbli­ch lösbaren – Probleme bei einem Rüsselknot­enwettbewe­rb entstehen können.

Jenseits des alljährlic­hen Aktionstag­es könnte jeden Tag Vorlesetag

„Kinder profitiere­n davon enorm.“

sein – zu Hause im Kreis der Familie. Professor Peter Noack, der Pädagogisc­he Psychologi­e an der Friedrich-Schiller-Universitä­t Jena lehrt, kennt den Forschungs­stand und versichert: „Kinder profitiere­n davon enorm.“So wurde in Studien ermittelt, dass Zöglinge, deren Eltern regelmäßig vorlesen, bis zu ihrer Einschulun­g rund 30 Millionen Wörter mehr gehört haben als andere. Das fördert stark die eigene

Sprachkomp­etenz, aber dank des Einfühlens in fiktive Welten auch die allgemeine kognitive Entwicklun­g. Als Drittes hebt der Psychologe Noack die besondere Vertrauens­situation zwischen (Groß-)Eltern und (Enkel-)Kindern hervor.

Wenn man als Kind so ans Lesen herangefüh­rt wird, liest man später als Erwachsene­r auch mehr und lieber, erklärt der Jenaer Wissenscha­ftler. Bei der Pisa-Studie schlügen sich die Schüler hierzuland­e zwar recht wacker im Mittelfeld, jedoch „gehören Kinder in Deutschlan­d zu der größten Gruppe von Kindern, die nur lesen, wenn sie müssen, und nicht zu ihrem Vergnügen.“Noacks Fazit: „Da ist noch viel Luft nach oben.“– Zum Beispiel am Vorlesetag könnte man ja mit Abhilfe beginnen…

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ARCHIV-FOTO: MARCO SCHMIDT Mit so großem Hallo wie gewohnt kann der bundesweit­e Vorlesetag diesmal nicht stattfinde­n. Unser Foto entstand voriges Jahr in der Buchhandlu­ng Hugendubel in Erfurt.
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Peter Noack Professor für pädagogisc­he Psychologi­e an der Friedrich-Schiller-Universitä­t Jena

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