Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Die Koffer bleiben in Reichweite“
Nach dem NSU-Relief für München hat der Jenaer Künstler Sebastian Jung nun ein Online-Projekt zum Anschlag von Halle entwickelt
Jena/Halle. Ein RTL-Reporter spricht in ein klobiges Mikro, die Kamera direkt vor der Nase. Vermummte Polizisten führen den an Händen und Beinen fixierten Angeklagten zu seinem Stuhl. Gerichtsreporter tippen eifrig in ihre Laptops.
Der aus Jena stammende Künstler Sebastian Jung hat den Beginn des Verfahrens gegen den Attentäter von Halle in zugespitzten Bleistiftzeichnungen festgehalten. Seine an Kinderbilder erinnernden Gerichtszeichnungen werfen unter anderem die Frage auf: Wie schauen wir als Gesellschaft auf den Täter?
Eigene Werke und Texte jüdischer Persönlichkeiten
Jungs 35 Blätter sind Teil eines vielschichtigen Internet-Kunstprojektes, das der Wahl-Leipziger am heutigen Donnerstag freischaltet. Es nimmt den Anschlag von Halle zum Anlass, sich mit Antisemitismus und jüdischem Leben in Ostdeutschland auseinanderzusetzen. Am 9. Oktober 2019 versuchte der Rechtsradikale Stephan B. in der örtlichen Synagoge ein Massaker anzurichten. Nachdem er nicht in das Gotteshaus eindringen konnte, erschoss er wahllos zwei Menschen. Unter dem Titel „Drachen Burgen Juden Hass“präsentiert Sebastian Jung auf einer gleichnamigen Homepage drei Werk-Reihen: „Halle-Prozess“, „Zugfahrten“und „Raufaser-Drachen“. Den Auftakt bildet jedoch eine Textsammlung jüdischer Persönlichkeiten wie Charlotte
Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden, oder Stephan J. Kramer, zum Judentum übergetretener Verfassungsschutz-Präsident Thüringens. „Die Normalität jüdischen Lebens ist noch nicht erreicht, die sprichwörtlichen Koffer – wenngleich ungepackt – bleiben in Reichweite“, schreibt beispielsweise Charlotte Knobloch.
Auf Textsammlung und ProzessBilder lässt Jung seine „Zugfahrten“folgen. In klugen lyrischen Texten beschreibt er Bahnreisen durch Thüringen, auf denen er über Antisemitismus
reflektiert: Er erinnert an den abgelegten Schweinekopf vor der jüdischen Gedenkstätte in Apolda, entdeckt eine Gedenktafel für deportierte Juden, Roma und Sinti am Jenaer Westbahnhof und besucht den Gründungsort des Instituts zur Entjudung des Christentums:
Eisenach. Über Thüringens Burgen schreibt Jung: „Wunderschönes Mittelalter/ Wunderschöne Barbarei./ Und in den Mauerritzen steckend: der Judenhass.“
Den Texten stellt er Handybilder voran, die er meist aus dem fahrenden Zug heraus fotografierte. Mit dem Bildbearbeitungsprogramm zeichnete er jeweils noch einen Drachen darauf, der ihn auf den Fahrten begleitete. Nur für Jung sichtbar, steht das uralte Fabelwesen auch als Sinnbild für die Erinnerungskultur.
Der Drache taucht auch im letzten Kapitel auf. Am Computer entwarf Sebastian Jung dreidimensionale Wesen, die sich aus der heimischen Raufasertapete herausschälen. In begleitenden Texten gedenkt er des geliebten Großvaters, dessen Fotos verloren gingen, als die Festplatte
vom Schreibtisch fiel. Und so fragt Jung, wie eine Erinnerungskultur in digitalen Zeiten aussehen kann, wenn defekte Speicher die kompletten Erinnerungen an Menschen einfach auslöschen können.
Der Künstler setzte sich bereits mehrfach mit rechter Gewalt auseinander, schuf Werke zum NSU, der sich in seiner Heimatstadt Jena gründete. Am Oberlandesgericht in München hängt beispielsweise ein Relief von ihm zum Prozess gegen Beate Zschäpe. Auch dieses Verfahren hielt er mit dem Bleistift fest. Sein im Auftrag von Imaginata Jena und der Friedrich-Ebert-Stiftung entwickeltes neues Kunstprojekt ist unter der Webadresse www.drachenburgenjudenhass.de online.