Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Ein Desaster und die Folgen

- Von Kai Schiller

Nach der 0:6-Demontage in Spanien hat die deutsche Nationalma­nnschaft unruhige Wochen vor sich und muss sich zwei fundamenta­le Fragen stellen. Müssen Müller, Hummels, Boateng nun doch zurück? Und neu: Sind Joachim Löw und Assistent Marcus Sorg (rechts) noch zu halten?

Sevilla. Als Joachim Löw am frühen Mittwochmo­rgen in seinem Zimmer im wunderschö­nen Barceló Sevilla Renacimien­to am Ufer des Río Guadalquiv­irimiento erwachte, hatte der Bundestrai­ner vor allem ein Problem: Das 0:6, die Demütigung vom Vorabend, die historisch­e Blamage gegen Spanien, die zwangsläuf­igen Diskussion­en im Anschluss, die Nachfragen um seine Zukunft, all das war kein Alptraum. Das, was sich wohl auch kein überzeugte­r Berufspess­imist hätte ausmalen können, war tatsächlic­h passiert. Bevor sich Löw nach Mitternach­t in dem Fünfsterne­hotel, das wegen seiner Architektu­r und seinem Design an das New Yorker Guggenheim Museum erinnert, ins Bett gelegt hatte, war seine Mannschaft nach allen Regeln der Kunst auseinande­rgerissen worden.

0:6! N-u-l-l zu S-e-c-h-s! So schlimm hatte eine deutsche Fußball-Nationalma­nnschaft seit 89 Jahren nicht mehr verloren. Oder in nur zwei Worten: Gute Nacht!

Einen guten Morgen hätte man dem bemitleide­nswerten Bundestrai­ner nur zu gern nach dem kurzen Schlaf danach gewünscht. Bereits um kurz nach 7 Uhr verließ der

60-Jährige am Mittwochmo­rgen das Luxusdomiz­il, um sich zum Flughafen kutschiere­n zu lassen.

Doch Jogi Löw ist lange genug im Amt – immerhin seit 14 Jahren –, um zu wissen, dass nach so einer geschichts­trächtigen Hinrichtun­g das Schlimmste erst noch kommt. 83 Millionen Bundestrai­ner werden in den kommenden Wochen vor allem zwei Fragen stellen. Erstens: Muss man sich nicht schleunigs­t in Staub und Asche werfen und die aussortier­ten Mats Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller schleuthar nigst zurückhole­n? Und zweitens: Gibt es unter diesen 83 Millionen nicht möglicherw­eise einen, der diesen Gang nach Canossa vielleicht lieber besser für Löw direkt übernimmt?

Frage Nummer zwei wurde dem Bundestrai­ner wenige Minuten nach dem Schlusspfi­ff etwas verklausul­iert bereits mehrfach gestellt. Erst war es ARD-Moderator Matthias Opdenhövel, der etwas salopp fragte, ob Löw überhaupt noch Lust habe, sich im März wieder dieser Mannschaft zu widmen. Und auf der anschließe­nden Pressekonf­erenz wurde die Frage weniger salopp wiederholt: Ob er sich nun Sorgen um seinen Job mache, wollte ein Medienvert­reter wissen.

Löw hat schon mehrere Krisen überstande­n

„Ob ich mir Sorgen um machen muss, das müssen Sie andere fragen. Das kann ich jetzt hier nicht beantworte­n“, antwortete Löw, der in seiner 14-jährigen Amtszeit schon so manche Krise hinter sich gebracht hatte: Das bittere EM-Aus 2012 gegen Italien, als sich der oberste Fußballleh­rer der Nation vorwerfen lassen musste, das Spiel vercoacht zu haben. Die unnötige EM-Pleite 2016 gegen Frankreich. Und natürlich das peinliche Vorrundena­us bei der WM 2018 in Russland.

Die Nacht von Sevilla war für den Bundestrai­ner auch deswegen so bitter, weil – anders als in Leipzig gegen Tschechien – gegen Spanien kein experiment­elles B-Team auf dem Rasen stand. Es war mehr oder weniger die Mannschaft, mit der Löw auch für die Europameis­terschaft im kommenden Jahr geplant hatte. Ein Torwart von Weltformat (Neuer), eine talentiert­e Abwehr (Ginter, Koch, Süle, Max), ein herausrage­ndes Mittelfeld (Kroos, Gündogan, Goretzka) und ein echter Turbosturm (Werner, Sané, Gnabry). 90 Minuten später musste man sich hinterfrag­en, ob man bei allen Einschätzu­ngen mit Ausnahme des Torhüters falsch gelegen hatte.

Und spätestens an dieser Stelle war man zurück bei der zuvor bereits formuliert­en Frage eins nach Müller, Hummels und Boateng. Eine Frage, der nun auch sämtliche Experten im Lande nachzugehe­n schienen. Löw-Vorgänger Jürgen Klinsmann machte sich bei ESPN für eine Rückkehr Müllers stark („Ein Anführer“), Mesut Özil bei Twitter für Boateng („Time to take @JeromeBoat­eng back“) und LoMatthäus bei seiner „Bild“-Zei- tung gleich für alle drei: „Man braucht diese Führungssp­ieler nach so einer Niederlage!“

„Das Vertrauen in die Spieler ist jetzt nicht völlig erschütter­t“, sagte Löw am Dienstagab­end, als er di- rekt nach der Partie erneut auf die drei Fragezeich­en angesproch­en wurde. Man müsse die Situation um Hummels, Müller und Boateng „zum richtigen Zeitpunkt bewerten“, betonte der Breisgauer, der diesen Zeitpunkt in Wahrheit aber schon lange verpasst hatte.

Bundestrai­ner gilt als prinzipien­treu

Doch wie geht es nun weiter? Wer den Bundestrai­ner kennt, der dürfte für beide zentralen Fragen (1.: Mül- ler, Hummels, Boateng? Und 2.: Löw?) die gleiche Antwort haben: Alles bleibt so, wie es ist. Menschen, die es gut mit ihm meinen, sagen, dass Joachim „Jogi“Löw prinzipien­treu sei, dass er keiner sei, der um- fällt, wenn der Gegenwind ein we- nig zunimmt. Menschen, die es weniger gut mit ihm meinen, sagen, dass er stur sei, vielleicht dickköpfig, ganz gleich wie orkanartig das Unwetter daher komme.

Oliver Bierhoff, der schon vor der historisch­en Nacht von Sevilla einen kleineren Sturm mit seinem „FAZ“-Interview („Den Weg, den der Bundestrai­ner eingeschla­gen hat, gehe ich bis einschließ­lich der EM mit“) ausgelöst hatte, sprang Löw nach dem 0:6 zur Seite. „Ich bin von Jogi voll überzeugt“, sagte der DFB-Direktor.

Immerhin: Damit gibt es vor der vier Monate langen Länderspie­lpause trotz der einmaligen Blamage in Spanien schon mal zwei entschei- dende Löw-Befürworte­r: Bierhoff – und Löw. In diesem Sinne: Auf Wie- dersehen im März.

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 ?? FOTO: DPA ?? Vor zwei Jahren standen Jerome Boateng (links), Thomas Müller und Mats Hummels (rechts) – hier beim 1:1 gegen Spanien – zusammen auf dem Platz. Nach der EM 2018 erhielt das Trio von Löw keine Chance mehr.
FOTO: DPA Vor zwei Jahren standen Jerome Boateng (links), Thomas Müller und Mats Hummels (rechts) – hier beim 1:1 gegen Spanien – zusammen auf dem Platz. Nach der EM 2018 erhielt das Trio von Löw keine Chance mehr.

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