Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Die Lage in Afghanistan geht an Tim Focken nicht spurlos vorbei. Heute ist Premiere
Tokio.
Keine Zeitungen, kein Fernsehen. Tim Focken wollte eigentlich nichts hören oder sehen. Die Bilder der Zurückeroberung Afghanistans durch die Taliban haben den kriegsversehrten Sportschützen schwer belastet. „Eine ganz hohe Traurigkeit und Ängste werden hervorgerufen“, sagte der Oldenburger. Ausgerechnet vor der ersehnten Premiere am Samstag und der ersten Teilnahme eines kriegsversehrten Bundeswehrsoldaten an den Paralympics holte ihn die Vergangenheit wieder ein. Der musste er sich stellen.
In Afghanistan wurde Focken im Oktober 2010 von den Taliban angeschossen, aus dem Hinterhalt. Eine Rettungsodyssee mit einer Notoperation in Koblenz inklusive. Seinen linken Arm kann der 37-Jährige seitdem nicht mehr richtig bewegen, er leidet an einer sogenannten Oberarmplexuslähmung.
Die Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban und die gleichzeitigen Erinnerungen im Hinterkopf waren nicht die besten Begleitumstände einer ParalympicsVorbereitung. Daher suchte Focken die „Truppenpsychologie auf. Mich nur auf den Sport zu fokussieren, ist mir nicht mehr gelungen“, sagte er.
Die psychologische Betreuung habe „gut getan“. „Ich koppel das Negative nun mit dem Positiven“, sagte Focken. „Sobald ich Afghanistan mit Krieg, Bomben, Tod höre, verbinde ich es mit etwas Positivem. Dies hilft mir, mich dahin zu bringen, wo es mir gut geht.“
Mit seiner Situation hat sich Focken abgefunden. „Es ist mein Schicksal, seitdem ich es angenommen habe“, betonte der zweimalige Familienvater. „Ich habe nicht mehr gefragt: wieso, weshalb, warum? Ich habe es angenommen. Es ist nun einfach so.“Keinen Zorn hegt er angesichts des abrupten Endes
Tim Focken tritt am Samstag als erster versehrter Bundeswehr-Soldat bei Paralympics an. Er hofft auf das Finale.
seines eigentlich geplanten Werdegangs. Denn es gibt auch die positiven Schicksalswendungen.
Anderthalb Jahre später plante der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière eine Sportförderung für behinderte Menschen in der Bundeswehr. Sie Hoffnung war, dass einer oder zwei einer solchen Gruppe verwundete Soldaten seien.
Focken startet als erster versehrter Bundeswehrsoldat bei den Paralympics. „Deutschland hier vertreten zu dürfen ist unbeschreiblich“, schwärmte er. Der Weg nach Tokio hatte Höhen, aber auch einige Tiefen. Er kam 2014 in die Sportfördergruppe. Ohne Wettkampferfahrung traute man es ihm zu, als Sportschütze für Furore zu sorgen – mit Blick in Richtung Paralympics.
Nicht immer sah Focken aber dieses Ziel. Die Nachwirkungen seiner Verwundung, die Bilder vom Krieg im Kopf. Heute ist er ein etabliertes Mitglied im Schießkader. Am Samstag hofft er auf das Finale, vielleicht träumt Focken auch von einer Medaille. Im Schlaf kann er den Ablauf eines Schusses erklären – am Ende fliegt die Patrone bestenfalls in die 10,9. Eine andere Hülse hat ihren Platz in einer Vitrine in der Heimat. Ein Andenken an die Verwundung. „Das Kapitel ist abgeschlossen“, sagte er. Nun startet ein neues.
Tokio.
Nach dem Vorrunden-Aus bei der Paralympics-Premiere schaut Badmintonspieler Thomas Wandschneider nach vorn. „Ich bin enttäuscht, weil ich eigentlich der erste Deutsche sein wollte, der bei Olympia oder Paralympics eine Medaille holt“, sagte der 57-Jährige. „Aber es war wunderschön. Ich war als zweifacher Opa in Tokio. Vielleicht gehe ich 2024 als drei- oder vierfacher Opa nach Paris.“
Wandschneider, der Ferienhäuser vermietet und das halbe Jahr in Spanien lebt, sitzt seit einem Autounfall 2000 im Rollstuhl. „Ein Müllwagen raste mir an einer roten Ampel ungebremst drauf“, erzählt er. Bei der Untersuchung seines Querschnitts in der Halswirbelsäule wurde ein Tumor festgestellt. „Man gab mir eine Lebenserwartung von drei bis fünf Jahren.“Noch heute lebt er mit dem Tumor. Er ist gutartig. „Er kann jederzeit ausbrechen. Aber es haben Leute auch 40 Jahre damit gelebt.“– Mit vier WM- und 14 EMTiteln war Wandschneider in Europa führend. Badminton ist aber erst jetzt paralympisch. „Ein Trainer sagte mir: Wir beide gehen zusammen nach Tokio“, sagt er: „Er wurde krank, jetzt bin ich alleine hier.“
Es fühle sich auch in anderer Hinsicht komisch an. Er habe nach dem Unfall viele Jahre prozessiert. „Ich bin für Deutschland angetreten, obwohl sie mich andererseits so vor Gericht gequält haben“, sagt er.