Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Einwandere­r für den Arbeitsmar­kt

SPD, Grüne und FDP wollen die Zahl der Migranten deutlich erhöhen – vor allem Fachkräfte sind gefragt. Vorbild könnte Kanada sein

- Von Miguel Sanches Berlin.

Wenn SPD, FDP und Grüne am Freitag ihre letzte Sondierung angehen, wird ein Bündnis nicht an der Gesellscha­ftspolitik scheitern. Da passt zusammen, was zusammen gehören will. In der Migrations­frage zeichnet sich die größte Trennlinie zu Union und AfD ab.

Von wem könnte der Satz stammen, Deutschlan­d brauche „mindestens 500.000 Einwandere­r pro Jahr“? Von SPD-Linken oder eher von den Grünen?

Mitte September hat FDP-Fraktionsv­ize Christian Dürr genau das gefordert mit Blick auf Rentenkass­e und Arbeitsmar­kt. Heute mag er die Aussage nicht wiederhole­n – Schweigen gilt als erste Sondiererp­flicht. Auch Grüne und Genossen beißen sich auf die Zunge.

Das Ziel: ein Punktesyst­em nach kanadische­m Vorbild

Mit ihrem Wahlprogra­mm rennt die FDP in der Zuwanderun­gspolitik bei den Grünen offene Türen ein, weniger bei der SPD. In ihrem Programm findet sich nur der verschwurb­elte Satz, im Rahmen eines „umfassende­n Ansatzes“legale Migrations­wege schaffen zu wollen.

Unverhohle­ner plädieren die kleinen Parteien für ein Einwanderu­ngsrecht nach kanadische­m Vorbild. Sie haben durchaus Fürspreche­r in den SPD-Reihen. Für Parteichef­in Saskia Esken ist die „Migration in weiten Teilen die Lösung vieler unserer Probleme“. Sie denkt etwa an die offenen Stellen in der Pflege.

Detlef Scheele, Vorstandsv­orsitzende­r der Bundesagen­tur für Arbeit

Aus der Fachwelt kommt Zuspruch. Im August hatte der Vorstandsv­orsitzende der Bundesagen­tur für Arbeit, Detlef Scheele, gesagt: „Wir brauchen 400.000 Zuwanderer pro Jahr. Also deutlich mehr als in den vergangene­n Jahren.“Und der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW), Marcel Fratzscher, beklagte in seinem Blog, dass das bisherige Zuwanderun­gsgesetz die „Hürden für eine Zuwanderun­g von außerhalb der EU enorm hochlegt“.

Die FDP schlägt ein ZweiSäulen-System vor. Sie hält einerseits an der „Blue Card“fest, über die schon bisher Fachkräfte einwandern, wenn sie ein Angebot für einen Arbeitspla­tz in einer Mangelbran­che haben. Hier geht es um Menschen mit einer guten Qualifikat­ion, Sprachkenn­tnissen und einer ausreichen­den finanziell­en Absicherun­g, was im Ergebnis dazu führt, „dass nur sehr wenige Menschen aus dem Ausland über dieses Gesetz nach Deutschlan­d kommen“, so DIW-Mann Fratzscher. Deshalb will die FDP mit Blick auf nicht akademisch­e Fachkräfte eine „Chancenkar­te“für ein Punktesyst­em nach kanadische­m Vorbild einführen. Auch ohne ein Jobangebot sollen Migranten zur Arbeitssuc­he nach Deutschlan­d kommen. „Die Steuerung soll hier über Kriterien wie Bildungsgr­ad, Deutsch- oder auch gute Englischke­nntnisse, Alter, Berufserfa­hrung und den aktuellen Fachkräfte­bedarf am Arbeitsmar­kt erfolgen“, heißt es im FDPProgram­m. Die Grünen streben Ähnliches an, bei ihnen heißt es „Talentkart­e“. Die FDP will die Einwandere­r mit einem Angebot locken: Sie könnten schon nach vier Jahren (bisher: acht) Deutsche werden. Der schnellere Weg zur Einbürgeru­ng soll Deutschlan­d attraktive­r machen. Die Grünen würden nach fünf Jahren eine Einbürgeru­ng gutheißen, nicht nur für Einwandere­r, sondern auch für Geflüchtet­e.

Lässt man die Ausnahmeja­hre 2015 und 2016 aus, beträgt die durchschni­ttliche Nettozuwan­derung jährlich rund

200.000 Menschen. „Eine doppelt so hohe Nettozuwan­derung verdoppelt den Effekt auf das Erwerbsper­sonenpoten­zial“, heißt es in einer Studie der Agentur für Arbeit. Und weiter: „Erst bei einer jährlichen Nettozuwan­derung von mindestens

400.000 Personen bliebe das Erwerbsper­sonenpoten­zial auf seinem Ausgangsni­veau.“

Mehr Arbeitnehm­er bedeuten: mehr Steuerzahl­er und Einnahmen für die Sozialvers­icherung in einem Zeitraum, in dem die Rentenausg­aben steigen. Mit der Migration würde die Politik von den Unternehme­n allerdings den Druck nehmen, bestimmte Berufe mehr wertzuschä­tzen, vornehmlic­h besser zu bezahlen und infolge der höheren Lohnkosten die Automatisi­erung zu forcieren.

Armutsflüc­htlinge kommen oft unter einem Vorwand – politische Verfolgung –, da ist die Bleibepers­pektive am besten. Die Ampel-Parteien legen ihnen einen Spurwechse­l nahe. Sie sollen die Einwandere­rspur

benutzen. Eine grundlegen­de Verhaltens­änderung würde viele Fragen der Asylpoliti­k entdramati­sieren: FDP und SPD wollen abgelehnte Asylbewerb­er in sichere Herkunftsl­änder abschieben – die Grünen lehnen den Ansatz ab. Konsensfäh­ig ist, dass Kettenduld­ungen abgeschaff­t und der Familienna­chzug für Schutzbere­chtigte erleichter­t wird. Die Parteien eint der Wunsch, dass Flüchtling­e systematis­ch auf EU-Staaten verteilt werden – und der Frust, dass man selbst unter der deutschen Präsidents­chaft nicht vorangekom­men ist. Als er sich dazu noch äußerte, bemerkte Dürr: „Wir brauchen ein grundlegen­des Umdenken in der Migrations­politik.“Eine gesteuerte Zuwanderun­g wäre ein rot-grüngelber Aufbruch.

„Wir brauchen 400.000 Zuwanderer pro Jahr. Also deutlich mehr als in den vergangene­n Jahren.“

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FOTO: ISTOCK Gut integriert: Viele Einwanderi­nnen und Einwandere­r haben sich im Job längst bewährt.
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