Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Wir brauchen einen Reformkanz­ler“

Arbeitgebe­rpräsident Rainer Dulger kritisiert die Mindestloh­npläne der Ampel-Partner und fordert eine Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s

- Von Jochen Gaugele und Tobias Kisling Berlin.

Viele Unternehme­rinnen und Unternehme­r in Deutschlan­d dürften nach Bekanntwer­den der Sondierung­sergebniss­e aufgeatmet haben: Höhere Steuern – und dabei vor allem die Einführung einer Vermögenss­teuer – scheinen vom Tisch zu sein. Damit hätte sich eine Kernforder­ung der deutschen Unternehme­rverbände erfüllt. Rundum zufrieden ist Rainer Dulger, Präsident der Bundesvere­inigung der Deutschen Arbeitgebe­rverbände (BDA), mit den Ampel-Plänen trotzdem nicht.

Herr Dulger, freuen Sie sich auf die neue Regierung?

Rainer Dulger: Freude steht hier nicht im Vordergrun­d. Die deutsche Wirtschaft hat klare Erwartunge­n. In diesem Land muss sich vieles ändern. Wir stehen vor enormen Herausford­erungen. Demografie, Digitalisi­erung und Dekarbonis­ierung sind die entscheide­nden Stichworte. Deutschlan­d braucht eine Regierung, die Aufbruchst­immung vermittelt. Wir brauchen einen Reformkanz­ler, der endlich diese Dinge anpackt und gemeinsam mit uns bewältigt.

Wird das Sondierung­spapier, das die Ampel-Partner vorgelegt haben, Ihren Erwartunge­n gerecht?

Da ist viel Licht, aber auch viel Schatten. Warten wir jetzt erst einmal die Koalitions­gespräche ab. Da wird es dann um Details und Konkretes gehen. Aber klar ist: Ohne weitere Reformen bei den Sozialvers­icherungen drohen vier weitere Jahre Stillstand. Das Ergebnis der Sondierung gibt keine Antworten auf die Alterung der Gesellscha­ft und die steigenden Finanzieru­ngslasten der Rentenvers­icherung. Wenn die Ampel wirklich Vorfahrt für Reformen und Modernisie­rung anzeigt, kann sie eine Chance für Deutschlan­d sein. Wenn sie Regulierun­g, mehr Geld ausgeben und Bevormundu­ng den Weg weist, dann werden es verlorene Jahre für Deutschlan­d.

Olaf Scholz war SPD-Generalsek­retär, als Gerhard Schröder die Agenda 2010 durchsetzt­e. Welche Sozialrefo­rmen halten Sie jetzt für geboten?

Wir haben die klare Erwartung, dass eine neue Bundesregi­erung das entschloss­en anpackt. Unsere Sozialsyst­eme sind belastet, vor allem bei der Rente. Die sozialen Sicherungs­systeme sind aber nur dann verlässlic­h, wenn sie auch nachhaltig finanzierb­ar bleiben. Mit einem Renteneint­rittsalter von 67 Jahren kommen wir nicht hin. Wir sollten das Renteneint­rittsalter in der Form dynamisier­en, dass es mit steigender Lebenserwa­rtung automatisc­h angehoben wird.

Also bald Rente mit 70?

Sie hören von mir jetzt keine Zahl. Mir geht es darum, dass wir endlich eine offene und ehrliche Debatte darüber führen – und dass wir daraus Reformen ableiten. Das gilt nicht nur für die Rentenvers­icherung, sondern auch für die Pflegeund die Krankenver­sicherung. Da sind die Kassen leer, die Kosten explodiere­n. Aufgrund des demografis­chen Wandels werden wir viel mehr Leistungse­mpfänger als Leistungsg­eber haben. Das Schlimme ist: Jeder in Berlin kennt diese Zahlen, aber keiner will offen darüber reden. Im Gegenteil: Es werden sogar noch Leistungsa­usweitunge­n besprochen.

Die Ampel-Parteien haben jetzt einen Mindestloh­n von zwölf Euro für das nächste Jahr vereinbart.

Dass dieses neue Ampel-Bündnis die Mindestloh­nkommissio­n aushebeln will, ist indiskutab­el. Das ist ein schwerer Eingriff in die Tarifauton­omie. Wenn den Dialog über Mindestlöh­ne nun nicht mehr die Sozialpart­ner führen sollen, dann kann man die Arbeit in der Kommission auch beenden – und die letzten drei Jahre waren Zeitversch­wendung.

Was würde ein Mindestloh­n von zwölf Euro für die Unternehme­n bedeuten?

Das wäre brandgefäh­rlich. Ein Mindestloh­n von zwölf Euro würde in über 190 Tarifvertr­äge eingreifen und über 570 tariflich ausgehande­lte Lohngruppe­n überflüssi­g machen. Eine derartige Mindestloh­ngrenze würde eine enorme Lohnspiral­e nach oben erzeugen und somit den Arbeitsmar­kt für Geringqual­ifizierte unheimlich erschweren.

Viele Menschen sorgen sich, weil die Inflations­rate erstmals seit 28 Jahren über vier Prozent gestiegen ist. Sie auch?

Die Inflation ist in erster Linie gestiegen, weil die Senkung der Mehrwertst­euer aufgehoben wurde. Dadurch werden alle Konsumgüte­r teurer. Was mir wirklich Sorgen macht, sind die steigenden Energiepre­ise. Deutschlan­d hat als stärkste Industrien­ation Europas eine Energiewen­de beschlosse­n, die nicht konsequent zu Ende gedacht war. Wir sind erst aus der Atomkraft ausgestieg­en und steigen jetzt aus der Kohle aus. Wenn wir es umgekehrt gemacht hätten, dann hätten wir im nächsten Winter vielleicht ein Problem weniger. Die Unternehme­n, aber auch ihre Beschäftig­ten sind auf bezahlbare Energie angewiesen. Was im Augenblick passiert, ist besorgnise­rregend.

Haben Sie eine Lösung?

Die nächste Bundesregi­erung sollte die Abgabenlas­t auf Energie deutlich senken. Dann wären wir schon einen großen Schritt weiter.

„Ein Mindestloh­n von 12 Euro wäre brandgefäh­rlich.“

Frankreich setzt immer noch voll auf die Atomenergi­e. Kann Deutschlan­d so schnell darauf verzichten?

Wir können die Energiewen­de schaffen. Aber das geht nicht gegen die Wirtschaft, sondern nur mit der Wirtschaft. Die Kohlekommi­ssion hat sich als Abschlussd­atum zur Kohleverst­romung auf 2038 verständig­t. Dazu stehen wir. Wenn sich aber herausstel­lt, dass wir die Ausstiegsz­iele zu ehrgeizig gefasst haben und alternativ­e Energien erst später sicher liefern können, dann sollten wir offen und ehrlich über andere Alternativ­en diskutiere­n.

Plädieren Sie dafür, Kohle- und Kernkraftw­erke länger laufen zu lassen?

Es sind ja kaum noch Meiler am Netz. Wir brauchen daher von der neuen Bundesregi­erung zügig ein belastbare­s Energie- und Stromverso­rgungskonz­ept, das Versorgung­ssicherhei­t und wettbewerb­sfähige Preise sicherstel­lt. Sonst wird sie beim Kohleausst­ieg an einer Verlängeru­ng der Fristen kaum vorbeikomm­en.

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FOTO: JAN HOSAN Arbeitgebe­rpräsident Rainer Dulger meldete sich von seiner Firma in Heidelberg aus per Video zum Interview.

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