Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Wir brauchen einen Reformkanzler“
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger kritisiert die Mindestlohnpläne der Ampel-Partner und fordert eine Erhöhung des Renteneintrittsalters
Viele Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland dürften nach Bekanntwerden der Sondierungsergebnisse aufgeatmet haben: Höhere Steuern – und dabei vor allem die Einführung einer Vermögenssteuer – scheinen vom Tisch zu sein. Damit hätte sich eine Kernforderung der deutschen Unternehmerverbände erfüllt. Rundum zufrieden ist Rainer Dulger, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), mit den Ampel-Plänen trotzdem nicht.
Herr Dulger, freuen Sie sich auf die neue Regierung?
Rainer Dulger: Freude steht hier nicht im Vordergrund. Die deutsche Wirtschaft hat klare Erwartungen. In diesem Land muss sich vieles ändern. Wir stehen vor enormen Herausforderungen. Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung sind die entscheidenden Stichworte. Deutschland braucht eine Regierung, die Aufbruchstimmung vermittelt. Wir brauchen einen Reformkanzler, der endlich diese Dinge anpackt und gemeinsam mit uns bewältigt.
Wird das Sondierungspapier, das die Ampel-Partner vorgelegt haben, Ihren Erwartungen gerecht?
Da ist viel Licht, aber auch viel Schatten. Warten wir jetzt erst einmal die Koalitionsgespräche ab. Da wird es dann um Details und Konkretes gehen. Aber klar ist: Ohne weitere Reformen bei den Sozialversicherungen drohen vier weitere Jahre Stillstand. Das Ergebnis der Sondierung gibt keine Antworten auf die Alterung der Gesellschaft und die steigenden Finanzierungslasten der Rentenversicherung. Wenn die Ampel wirklich Vorfahrt für Reformen und Modernisierung anzeigt, kann sie eine Chance für Deutschland sein. Wenn sie Regulierung, mehr Geld ausgeben und Bevormundung den Weg weist, dann werden es verlorene Jahre für Deutschland.
Olaf Scholz war SPD-Generalsekretär, als Gerhard Schröder die Agenda 2010 durchsetzte. Welche Sozialreformen halten Sie jetzt für geboten?
Wir haben die klare Erwartung, dass eine neue Bundesregierung das entschlossen anpackt. Unsere Sozialsysteme sind belastet, vor allem bei der Rente. Die sozialen Sicherungssysteme sind aber nur dann verlässlich, wenn sie auch nachhaltig finanzierbar bleiben. Mit einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren kommen wir nicht hin. Wir sollten das Renteneintrittsalter in der Form dynamisieren, dass es mit steigender Lebenserwartung automatisch angehoben wird.
Also bald Rente mit 70?
Sie hören von mir jetzt keine Zahl. Mir geht es darum, dass wir endlich eine offene und ehrliche Debatte darüber führen – und dass wir daraus Reformen ableiten. Das gilt nicht nur für die Rentenversicherung, sondern auch für die Pflegeund die Krankenversicherung. Da sind die Kassen leer, die Kosten explodieren. Aufgrund des demografischen Wandels werden wir viel mehr Leistungsempfänger als Leistungsgeber haben. Das Schlimme ist: Jeder in Berlin kennt diese Zahlen, aber keiner will offen darüber reden. Im Gegenteil: Es werden sogar noch Leistungsausweitungen besprochen.
Die Ampel-Parteien haben jetzt einen Mindestlohn von zwölf Euro für das nächste Jahr vereinbart.
Dass dieses neue Ampel-Bündnis die Mindestlohnkommission aushebeln will, ist indiskutabel. Das ist ein schwerer Eingriff in die Tarifautonomie. Wenn den Dialog über Mindestlöhne nun nicht mehr die Sozialpartner führen sollen, dann kann man die Arbeit in der Kommission auch beenden – und die letzten drei Jahre waren Zeitverschwendung.
Was würde ein Mindestlohn von zwölf Euro für die Unternehmen bedeuten?
Das wäre brandgefährlich. Ein Mindestlohn von zwölf Euro würde in über 190 Tarifverträge eingreifen und über 570 tariflich ausgehandelte Lohngruppen überflüssig machen. Eine derartige Mindestlohngrenze würde eine enorme Lohnspirale nach oben erzeugen und somit den Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte unheimlich erschweren.
Viele Menschen sorgen sich, weil die Inflationsrate erstmals seit 28 Jahren über vier Prozent gestiegen ist. Sie auch?
Die Inflation ist in erster Linie gestiegen, weil die Senkung der Mehrwertsteuer aufgehoben wurde. Dadurch werden alle Konsumgüter teurer. Was mir wirklich Sorgen macht, sind die steigenden Energiepreise. Deutschland hat als stärkste Industrienation Europas eine Energiewende beschlossen, die nicht konsequent zu Ende gedacht war. Wir sind erst aus der Atomkraft ausgestiegen und steigen jetzt aus der Kohle aus. Wenn wir es umgekehrt gemacht hätten, dann hätten wir im nächsten Winter vielleicht ein Problem weniger. Die Unternehmen, aber auch ihre Beschäftigten sind auf bezahlbare Energie angewiesen. Was im Augenblick passiert, ist besorgniserregend.
Haben Sie eine Lösung?
Die nächste Bundesregierung sollte die Abgabenlast auf Energie deutlich senken. Dann wären wir schon einen großen Schritt weiter.
„Ein Mindestlohn von 12 Euro wäre brandgefährlich.“
Frankreich setzt immer noch voll auf die Atomenergie. Kann Deutschland so schnell darauf verzichten?
Wir können die Energiewende schaffen. Aber das geht nicht gegen die Wirtschaft, sondern nur mit der Wirtschaft. Die Kohlekommission hat sich als Abschlussdatum zur Kohleverstromung auf 2038 verständigt. Dazu stehen wir. Wenn sich aber herausstellt, dass wir die Ausstiegsziele zu ehrgeizig gefasst haben und alternative Energien erst später sicher liefern können, dann sollten wir offen und ehrlich über andere Alternativen diskutieren.
Plädieren Sie dafür, Kohle- und Kernkraftwerke länger laufen zu lassen?
Es sind ja kaum noch Meiler am Netz. Wir brauchen daher von der neuen Bundesregierung zügig ein belastbares Energie- und Stromversorgungskonzept, das Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähige Preise sicherstellt. Sonst wird sie beim Kohleausstieg an einer Verlängerung der Fristen kaum vorbeikommen.