Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Schlange stehen als Beruf
Theaterhaus Jena: Marleen Scholten spielt in ihrem Solo „La Codista“mit der Zeit
Zeit ist Geld. In diesem Fall genau zehn Euro pro Stunde. Das ist ihr Tarif. Denn die ehemalige Angestellte, die entlassen wurde, stellt sich inzwischen freiberuflich an: für andere, die derart entlastet werden.
Sie hat einen Dienstleistungsberuf erfunden, der außergewöhnlich erscheinen mag: Schlange stehen. Warten. Dabei dient er im Grunde dem gleichen Zweck wie all die anderen auch: der Zeitersparnis. Er dient Leuten, die keine Zeit haben.
Sie gibt Zeit. Und nimmt sie sich. Das ist hier gleich doppelt wahr. Die Regisseurin und Schauspielerin Marleen Scholten nimmt sie sich ebenso wie die Frau, die sie uns vorstellt. Sie nimmt sie sich und spielt damit. Sie hält sie an und hält sie fest, sie lässt sie vorwärts und rückwärts laufen, lässt sie rennen und schleichen. Sie hat keine Eile, durch ihren Text zu kommen, sie hat, was auch ihre Figur braucht: Geduld. Und sie hat so gar keine Angst, dass wir sie dabei verlieren könnten.
Marleen Scholten lebt inzwischen in Mailand, neben Rotterdam ein weiterer Standort des Theaterkollektivs Wunderbaum, das seit
2018 und noch bis 2023 zudem das Theaterhaus Jena bespielt. Hier war Scholten zuletzt der Maestro im „Clowns-Kongress“, der im Juli die Kulturarena eröffnete. Jetzt vereinigt sie in ihrem Solo einer seriösen Komödiantin gleichsam den lustigen und traurigen Clown.
Scholten spielt die Geschichte einer Frau, die eigentlich die eines Mannes ist: Giovanni Cafaro, der
2014 in Mailand die professione codista erfand: Schlange stehen („stare in coda“) als Beruf. Er übernimmt Gänge zu Ämtern und Behörden, wartet für andere stundenlang auf das neue iPhone und die letzten Karten für eine Aufführung in der Mailänder Scala. „Ab heute ist deine Schlange meine Schlange“, so lautete sein Slogan. Mittlerweile hat er einen nationalen Tarifvertrag für diesen Beruf durchgesetzt, den aktuell 650 Italiener ausüben sollen. In Italien sind Warteschlangen ein besonders verbreitetes Phänomen: Jeder einzelne verbringt, statistisch, darin jährlich 400 Stunden.
Auf Basis eines Interviews mit Cafaro hat sich Scholten dessen Gestrahlt, schichte angeeignet. Sie spielte sie auf Italienisch, in Mailand, auf Niederländisch, Rotterdam, nun folgte in Jena die deutsche Premiere.
Unter einer Batterie Leuchtstoffröhren, im Trenchcoat und mit Ledertasche, behauptet sie diese konsequent als die eigene, im komplett leeren Bühnenraum, den sie nur mit ihrem Spiel komplett einrichtet.
Schlange stehen muss sie dabei nicht, nur warten: bis ihre Nummer, 127, aufgerufen wird, die von Frau D’Angelo, die sie vertritt. Der erste Blick zur Seite, dem viele folgen, sagt ihr: Wir sind derzeit bei 64. Das kann noch dauern. Wie lange, bleibt offen. Einmal, wir verharren bei 69, erklärt uns Scholten: „Heute Abend haben Sie kein Glück. Wir werden noch eine ganze Weile hier sein.“Sie steht da, lächelt zufrieden, verschmitzt, verschlagen. Sie ruht in sich. Die Unruhe, die Ungeduld, die sie parodiert, gehört anderen, denen sie begegnete. Dann wird ihre Mimik, die sie in eigener Sache zurückhaltend, aber pointiert einsetzt, zur großen Grimasse. Doch bei der Zufriedenheit, die sie aus
bleibt es nicht. Darunter knistert es, dann brodelt es, dann reißt die Oberfläche hart auf und öffnet ein Loch, in das sich diese Frau fallen lassen könnte. Es ist das Loch der relativen Lebenszeit: Wie habe ich sie genutzt, wie habe ich sie verschwendet? Was bleibt?
Wenn Scholten telefoniert, mit Frau D’Angelo, gibt es kein Telefon auf der Bühne. Wenn sie rauchen geht, gibt es keine Zigarette. Und doch ist alles stets zur Stelle, allein durch die Kraft der Imagination, die selbstverständliche Erzählkunst.
„Er hat meinen Blick auf die Zeit verändert“, sagt sie über ihren Job. Scholten tut desgleichen, bei uns.