Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Ich möchte emotionalen Fußball sehen“
Vor dem Topspiel gegen Leverkusen spricht Bayern-Trainer Julian Nagelsmann über seine ersten gut 100 Tage in München
Betrachtet man das Telefonat als Fußballspiel, ist Julian Nagelsmann zum Anpfiff so da, wie man ihn vom Fußballplatz kennt: konzentriert, zielgerichtet, klar in der Ansprache. Was anders ist als an den Bundesliga-Wochenenden und daher positiv auffällt: Der 34-Jährige kann auch mal die Anspannung beiseitelegen, witzig und unterhaltsam ins Plaudern geraten. Das könnte eine gute Mischung sein, um dauerhaft Erfolg zu haben als Trainer des FC Bayern. Nun ist Nagelsmann aber erst einmal gut 100 Tage in der Verantwortung beim Rekordmeister und geht am Sonntag (15.30 Uhr/Dazn) bei Bayer Leverkusen in sein erstes Topspiel – Zweiter gegen Erster, besser geht’s nicht.
Herr Nagelsmann, Leverkusen war um die Jahrtausendwende konstant ein Bayern-Konkurrent. Sie waren da gerade im Teenager-Alter. Wie haben Sie diese Duelle erlebt?
Leverkusen arbeitet seit vielen Jahren sehr gut und ist immer wieder nahe dran, auch mal ganz oben zu landen. Um die Jahrtausendwende gab es mit diesem Verein richtig dramatische, historische Geschehnisse. Leverkusen hatte Weltklassespieler wie Michael Ballack, Zé Roberto oder Jens Nowotny. Die aktuelle Mannschaft ist extrem talentiert, vielversprechend, und im Gegensatz zu damals sehr jung. Ich habe Leverkusen jedes Jahr auf der Liste der Top-Teams der Liga.
Wenn man sich die Punkte-Abstände in den Abschlusstabellen der vergangenen Jahre anschaut – man hat nicht mehr den Eindruck, als könnten andere Bundesligisten dem FC Bayern über 34 Spieltage hinweg noch Paroli bieten.
Ich hoffe, dass das dieses Jahr so ist (lacht). In den vergangenen Jahren habe ich es mit meinen damaligen Clubs probiert, das zu ändern. Als Nicht-Bayern-München-Trainer ist die Konstanz das Wichtigste. Mit der entsprechenden Tagesform kann man immer mal gegen Bayern München gewinnen. Am Ende hat es aber in den vergangenen Jahren immer nur ein Verein geschafft, das hohe Niveau über die ganze Saison zu halten: der FC Bayern. Meistens hat einer der Konkurrenten immer mal über einen gewissen Zeitraum geschwächelt, weil die Spieler vielleicht noch zu jung sind oder nicht das Topklassenniveau haben. Solche Schwankungen hat es in München kaum gegeben.
Es heißt immer so schön: Ja, wenn die Bayern schwächeln … Seit neun Jahren jedoch huscht, wenn es in München mal nicht ideal lief, kein Konkurrent an ihnen vorbei.
Dortmund ist immer ein Hauptkonkurrent. Dort wird gut in den Kader investiert, sie haben gute Entscheidungsträger in einem äußerst emotionalen Club. Das Gesamtpaket von der Kaderqualität und den Fans im Stadion macht es nie leicht, gegen sie erfolgreich zu spielen.
Schalke, der Hamburger SV und Bremen nahmen sogar Ausfahrten in die 2. Liga. Vermissen Sie diese Klubs im Oberhaus?
Absolut. Ich hatte mein erstes Bundesligaspiel
als Co-Trainer in Hamburg. Das ist eine sensationelle Stadt und auch ein geiler Club, der jeden Fußballfan emotionalisiert. Gleiches gilt für Bremen: Ein Verein mit tollen Fans und sehr familiärem Klima, bei dem man sich als Gast immer wohl gefühlt hat. Über Schalke brauchen wir eigentlich gar nicht zu reden: Einer der größten Traditionsclubs, die wir haben. Mit ganz speziellen Fans, das ist unglaublich.
Abgesehen vom letzten Spieltag vor den Länderspielen lief es für Sie in München bisher prächtig.
Ehrlich gesagt ist es schwierig, einen erfolgreichen Club zu übernehmen. Wenn wir dieses Jahr Meister werden, ist die öffentliche Meinung: Gut, zehntes Mal, nichts Besonderes. Für mich wäre es das aber schon. Und wenn wir nicht Meister werden, wird auf dich mit dem Finger gezeigt: Da, der Erste, der es seit neun Jahren nicht geschafft hat… Ich empfand es als einfacher, Hoffenheim auf einem Abstiegsplatz zu übernehmen und dann nach oben zu führen.
Ist das nicht ein wenig beängstigend, mit gerade einmal 34 Jahren schon so hoch gekommen zu sein?
Mir ist schon bewusst, dass einige Dinge in meiner Karriere äußerst gut gelaufen sind. Dass ich immer eine Mannschaft hatte, die sehr viel von dem umsetzen konnte, was ich auf dem Platz sehen wollte. Ohne die deutsche Meisterschaft mit der U19 wäre ich in Hoffenheim nicht so schnell Bundesligatrainer geworden. Wenn ich 2016 mit der TSG abgestiegen wäre, hätte meine Karriere
einen ganz anderen Verlauf genommen – da bin ich mir sehr sicher. Und wenn ich in Leipzig nicht Zweiter und Dritter geworden wäre, hätte es auch anders ausgesehen.
Wie waren für Sie die ersten Monate beim FC Bayern?
Ich habe auf jeden Fall keine andere Herangehensweise, nur weil ich nicht mehr in Leipzig oder Hoffenheim, sondern in München arbeite. Bei all meinen Stationen habe ich intern und öffentlich den Anspruch formuliert, alles gewinnen zu wollen. Also auch immer ein Team haben zu wollen, hinter dem andere her sind. Das finde ich hier vor. Die erste Zeit war sehr angenehm, die Mannschaft ist charakterlich herausragend, ich habe generell eine sehr gute Verbindung zum gesamten Verein. Es verleiht mir ein sehr angenehmes Gefühl, so sein zu können, wie ich wirklich bin.
Was ist Ihre Version des FC Bayern?
Ich möchte emotionalisierenden Fußball sehen, nicht einschläfernden Ballbesitzfußball oder langweiliges Hin- und Hergekicke. Ich habe es immer gerne, dass auch NichtBayern-Fans sagen: Ich schaue mir die Münchener gerne an, weil deren Spiele interessant sind und Spaß machen. Und wenn man dann irgendwann am Ende meiner Tätigkeit in München zurückblickt, wäre es schon wünschenswert, dass die Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, sagen: Das war eine angenehme Zeit, er war nicht nur ein guter Trainer, sondern auch ein guter Mensch. Dann wäre ich schon sehr zufrieden.