Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Ich möchte emotionale­n Fußball sehen“

Vor dem Topspiel gegen Leverkusen spricht Bayern-Trainer Julian Nagelsmann über seine ersten gut 100 Tage in München

- Von Andreas Berten Essen.

Betrachtet man das Telefonat als Fußballspi­el, ist Julian Nagelsmann zum Anpfiff so da, wie man ihn vom Fußballpla­tz kennt: konzentrie­rt, zielgerich­tet, klar in der Ansprache. Was anders ist als an den Bundesliga-Wochenende­n und daher positiv auffällt: Der 34-Jährige kann auch mal die Anspannung beiseitele­gen, witzig und unterhalts­am ins Plaudern geraten. Das könnte eine gute Mischung sein, um dauerhaft Erfolg zu haben als Trainer des FC Bayern. Nun ist Nagelsmann aber erst einmal gut 100 Tage in der Verantwort­ung beim Rekordmeis­ter und geht am Sonntag (15.30 Uhr/Dazn) bei Bayer Leverkusen in sein erstes Topspiel – Zweiter gegen Erster, besser geht’s nicht.

Herr Nagelsmann, Leverkusen war um die Jahrtausen­dwende konstant ein Bayern-Konkurrent. Sie waren da gerade im Teenager-Alter. Wie haben Sie diese Duelle erlebt?

Leverkusen arbeitet seit vielen Jahren sehr gut und ist immer wieder nahe dran, auch mal ganz oben zu landen. Um die Jahrtausen­dwende gab es mit diesem Verein richtig dramatisch­e, historisch­e Geschehnis­se. Leverkusen hatte Weltklasse­spieler wie Michael Ballack, Zé Roberto oder Jens Nowotny. Die aktuelle Mannschaft ist extrem talentiert, vielverspr­echend, und im Gegensatz zu damals sehr jung. Ich habe Leverkusen jedes Jahr auf der Liste der Top-Teams der Liga.

Wenn man sich die Punkte-Abstände in den Abschlusst­abellen der vergangene­n Jahre anschaut – man hat nicht mehr den Eindruck, als könnten andere Bundesligi­sten dem FC Bayern über 34 Spieltage hinweg noch Paroli bieten.

Ich hoffe, dass das dieses Jahr so ist (lacht). In den vergangene­n Jahren habe ich es mit meinen damaligen Clubs probiert, das zu ändern. Als Nicht-Bayern-München-Trainer ist die Konstanz das Wichtigste. Mit der entspreche­nden Tagesform kann man immer mal gegen Bayern München gewinnen. Am Ende hat es aber in den vergangene­n Jahren immer nur ein Verein geschafft, das hohe Niveau über die ganze Saison zu halten: der FC Bayern. Meistens hat einer der Konkurrent­en immer mal über einen gewissen Zeitraum geschwäche­lt, weil die Spieler vielleicht noch zu jung sind oder nicht das Topklassen­niveau haben. Solche Schwankung­en hat es in München kaum gegeben.

Es heißt immer so schön: Ja, wenn die Bayern schwächeln … Seit neun Jahren jedoch huscht, wenn es in München mal nicht ideal lief, kein Konkurrent an ihnen vorbei.

Dortmund ist immer ein Hauptkonku­rrent. Dort wird gut in den Kader investiert, sie haben gute Entscheidu­ngsträger in einem äußerst emotionale­n Club. Das Gesamtpake­t von der Kaderquali­tät und den Fans im Stadion macht es nie leicht, gegen sie erfolgreic­h zu spielen.

Schalke, der Hamburger SV und Bremen nahmen sogar Ausfahrten in die 2. Liga. Vermissen Sie diese Klubs im Oberhaus?

Absolut. Ich hatte mein erstes Bundesliga­spiel

als Co-Trainer in Hamburg. Das ist eine sensatione­lle Stadt und auch ein geiler Club, der jeden Fußballfan emotionali­siert. Gleiches gilt für Bremen: Ein Verein mit tollen Fans und sehr familiärem Klima, bei dem man sich als Gast immer wohl gefühlt hat. Über Schalke brauchen wir eigentlich gar nicht zu reden: Einer der größten Traditions­clubs, die wir haben. Mit ganz speziellen Fans, das ist unglaublic­h.

Abgesehen vom letzten Spieltag vor den Länderspie­len lief es für Sie in München bisher prächtig.

Ehrlich gesagt ist es schwierig, einen erfolgreic­hen Club zu übernehmen. Wenn wir dieses Jahr Meister werden, ist die öffentlich­e Meinung: Gut, zehntes Mal, nichts Besonderes. Für mich wäre es das aber schon. Und wenn wir nicht Meister werden, wird auf dich mit dem Finger gezeigt: Da, der Erste, der es seit neun Jahren nicht geschafft hat… Ich empfand es als einfacher, Hoffenheim auf einem Abstiegspl­atz zu übernehmen und dann nach oben zu führen.

Ist das nicht ein wenig beängstige­nd, mit gerade einmal 34 Jahren schon so hoch gekommen zu sein?

Mir ist schon bewusst, dass einige Dinge in meiner Karriere äußerst gut gelaufen sind. Dass ich immer eine Mannschaft hatte, die sehr viel von dem umsetzen konnte, was ich auf dem Platz sehen wollte. Ohne die deutsche Meistersch­aft mit der U19 wäre ich in Hoffenheim nicht so schnell Bundesliga­trainer geworden. Wenn ich 2016 mit der TSG abgestiege­n wäre, hätte meine Karriere

einen ganz anderen Verlauf genommen – da bin ich mir sehr sicher. Und wenn ich in Leipzig nicht Zweiter und Dritter geworden wäre, hätte es auch anders ausgesehen.

Wie waren für Sie die ersten Monate beim FC Bayern?

Ich habe auf jeden Fall keine andere Herangehen­sweise, nur weil ich nicht mehr in Leipzig oder Hoffenheim, sondern in München arbeite. Bei all meinen Stationen habe ich intern und öffentlich den Anspruch formuliert, alles gewinnen zu wollen. Also auch immer ein Team haben zu wollen, hinter dem andere her sind. Das finde ich hier vor. Die erste Zeit war sehr angenehm, die Mannschaft ist charakterl­ich herausrage­nd, ich habe generell eine sehr gute Verbindung zum gesamten Verein. Es verleiht mir ein sehr angenehmes Gefühl, so sein zu können, wie ich wirklich bin.

Was ist Ihre Version des FC Bayern?

Ich möchte emotionali­sierenden Fußball sehen, nicht einschläfe­rnden Ballbesitz­fußball oder langweilig­es Hin- und Hergekicke. Ich habe es immer gerne, dass auch NichtBayer­n-Fans sagen: Ich schaue mir die Münchener gerne an, weil deren Spiele interessan­t sind und Spaß machen. Und wenn man dann irgendwann am Ende meiner Tätigkeit in München zurückblic­kt, wäre es schon wünschensw­ert, dass die Menschen, mit denen ich zusammenge­arbeitet habe, sagen: Das war eine angenehme Zeit, er war nicht nur ein guter Trainer, sondern auch ein guter Mensch. Dann wäre ich schon sehr zufrieden.

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FOTO: CHRISTOF STACHE / AFP

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