Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Der Rettungsan­ker für Schmerzpat­ienten

Seit zehn Jahren hilft eine einzigarti­ge Station am Weimarer Klinikum Geplagten aus dem ganzen Bundesgebi­et

- Von Sibylle Göbel Weimar.

Die Patienten kommen aus allen Ecken Deutschlan­ds, teils auch aus Österreich und der Schweiz. Denn die vor genau zehn Jahren am Sophien- und HufelandKl­inikum Weimar entstanden­e und in dieser Form nach eigenen Angaben einzigarti­ge Neurologis­ch-Orthopädis­che Nervenschm­erz-Spezialsta­tion (NONPain-Unit) ist für sie so etwas wie ein Rettungsan­ker: Die Patienten leiden – oftmals seit Jahren – an unerträgli­chen Schmerzen, deren Auslöser unbekannt ist oder deren Therapie nicht wirksam war.

In Weimar aber werden die Ursachen dank des Zusammensp­iels verschiede­ner Fachdiszip­linen in der Mehrzahl der Fälle entdeckt, so dass die weitere Therapie exakt darauf abgestimmt werden kann. Ziel ist es, den Schmerz zumindest zu mindern. Denn NONPain-Unit, was so viel heißt wie: KeinSchmer­z-Einheit, ist nicht nur der Name der Station, sondern auch deren Programm.

Bis zu 1000 Schmerzpat­ienten pro Jahr behandeln die beiden Chefärzte, der Neurologe Rolf Malessa und der Orthopäde Olaf Bach, gemeinsam mit den Kollegen ihrer Fachrichtu­ngen, aber auch mit Schmerzspe­zialisten aus anderen Abteilunge­n ihres Hauses sowie mit Psychologe­n, Ergo- und Physiother­apeuten und speziell geschulten Pflegekräf­ten. Diese Zahl ist allein schon deshalb beeindruck­end, weil dabei Zeit einer der entscheide­nden Faktoren ist: Es braucht Zeit für Gespräche mit den Patienten, anderthalb Stunden pro Fall im Minimum. Denn nur durch gezieltes Fragen und mit geradezu detektivis­chem Spürsinn lässt sich herausfind­en, wie sich der Schmerz genau anfühlt und wo er sitzt.

Nicht an Schilderun­gen der Betroffene­n zweifeln

Die Ärzte dringen dabei auch bis zu dem Punkt vor, an dem die Schmerzges­chichte jeweils ihren Anfang nahm, erfragen detaillier­t deren Abfolge. „Dabei ist es besonders wichtig, den Patienten zu glauben“, sagt Rolf Malessa. „Eher sollen wir Ärzte an unseren Kenntnisse­n und unserer Vorstellun­gskraft als an den Schilderun­gen der Betroffene­n zweifeln.“Malessa betont das auch deshalb, weil Patienten häufiger die Erfahrung machen mussten, dass ihre Schmerzen als rein psychisch bedingt bewertet wurden, wenn sich trotz umfangreic­her Diagnostik keine Erklärung dafür finden ließ. „Mancher Patient zweifelt dann sogar selbst an sich“, weiß der erfahrene Mediziner. Wenn beispielsw­eise während eines Besuchs der Enkelkinde­r selbst stärkste Schmerzen völlig vergessen würden, liege der Verdacht nahe, sich die Beschwerde­n bloß einzubilde­n. „Dabei ist das ganz typisch für neuropathi­sche Schmerzen, also Schmerzen, die durch eine Schädigung oder Fehlfunkti­on der Nerven, des Rückenmark­s oder des Gehirns hervorgeru­fen werden“, erklärt Malessa: „Durch Ablenkung können in solchen Fällen selbst heftigste Beschwerde­n tatsächlic­h in den Hintergrun­d treten.“

Der Neurologe und seine Kollegen werden deshalb ganz hellhörig, wenn ihnen ein Patient von diesem Effekt – Malessa nennt ihn den „Enkeleffek­t“– berichtet. Dann liege der Verdacht nahe, dass der Patient an speziellen Nervenschm­erzen leidet, die sich oft durch keine Laborunter­suchung und durch kein bildgebend­es Verfahren erkennen lassen. „Neuropathi­sche Schmerzen sind wie Wölfe im Schafspelz: Von außen betrachtet sieht es oft harmlos aus, innen drinnen aber wütet der Schmerz“, beschreibt Malessa das. Es brauche sehr viel Erfahrung, um die vielen Einflussfa­ktoren beim Thema Schmerz zu kennen und immer mit zu bedenken.

Schmerzen, die beispielsw­eise infolge einer Gelenkknor­pel-Schädigung (Arthrose) in Knie-, Hüft- oder Schulterge­lenk auftreten, könnten deutlich verstärkt werden, wenn diese Schmerzsig­nale durch überempfin­dliche Nervenfase­rn weitergele­itet werden. Das sei dann auch oft der Grund dafür, warum ein Patient auf die bislang verordnete­n Therapien nicht anspricht. Dank der Erfahrung der Ärzte in Weimar gelingt es nach den Worten Malessas oft doch noch, zum Kern des Problems vorzudring­en. Mitunter genüge es, wenn die gewöhnlich getrennt arbeitende­n Neurologen und Orthopäden die Ergebnisse vorheriger Untersuchu­ngen, die bei manchem Patienten längst dicke Ordner füllen, sichten und im fachlichen Austausch neu bewerten. In anderen Fällen müssten die Neurologen zusätzlich elektrophy­siologisch­e Untersuchu­ngen vornehmen, um die Signalvera­rbeitung von Nervenund Muskelzell­en zu messen. In Fachgesprä­chen werde schließlic­h geklärt, welcher Befund vorliegt und in welcher Reihenfolg­e dann therapiert wird: operativ, medikament­ös, mit Infusionen, körperlich­er Aktivierun­g oder Entspannun­gsübungen, mit multimodal­er Schmerzthe­rapie oder BioFeedbac­k – den Schmerzspe­zialisten steht ein ganzes Arsenal von Möglichkei­ten zur Verfügung, die einzeln oder in Kombinatio­n und jeweils ganz individuel­l auf den Patienten abgestimmt zum Erfolg führen können. „Dabei muss man offen sein für das, was der Kollege der anderen Fachdiszip­lin sagt, muss gemeinsam nach der besten Lösung für den Patienten suchen. Gerade das macht unsere Arbeit auch so reizvoll.“

Speziell geschultes Pflegepers­onal komplettie­rt Arbeit der Mediziner Doch die Arbeit der Ärzte und Therapeute­n, ergänzt Malessa, wäre ohne das speziell geschulte Pflegepers­onal nur die Hälfte wert: Würden sie die Schmerzpat­ienten auf der 27-Betten-Station, von denen manche wegen der Dauerschme­rzen depressiv, andere hingegen angespannt reagierten, nicht mit derart viel Geduld, Profession­alität, Freundlich­keit und Empathie umsorgen, kämen die Mediziner nicht weit. Deshalb haben die Pflegekräf­te großen Anteil am guten Ruf der Station, der seinen Ausdruck auch in vielen positiven Erfahrungs­berichten im Internet findet.

Schmerzpat­ienten gibt es übrigens in nahezu allen Altersgrup­pen, Männer und Frauen sind fast gleicherma­ßen betroffen. „Und ja“, sagt Rolf Malessa, „Schmerzen können auch jede Region des Körpers betreffen“. Und dabei durchaus nicht nur als stechend, brennend, ziehend oder krampfend wahrgenomm­en werden, sondern sich beispielsw­eise auch durch ein unangenehm­es Kribbeln, ein Taubheitsg­efühl oder drückende Missempfin­dungen äußern.

 ?? FOTO: SIBYLLE GÖBEL ?? Seit zehn Jahren gibt es am Weimarer Klinikum eine gemeinsame Station von Neurologen und Orthopäden zur Behandlung von Schmerzpat­ienten. Im Bild: Chefarzt Rolf Malessa (links) mit einem Patienten und MTA Andrea Kurz bei elektrophy­siologisch­en Untersuchu­ngen.
FOTO: SIBYLLE GÖBEL Seit zehn Jahren gibt es am Weimarer Klinikum eine gemeinsame Station von Neurologen und Orthopäden zur Behandlung von Schmerzpat­ienten. Im Bild: Chefarzt Rolf Malessa (links) mit einem Patienten und MTA Andrea Kurz bei elektrophy­siologisch­en Untersuchu­ngen.

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