Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Johnson träumt von „Green Britain“

In Glasgow beginnt am Sonntag die UN-Klimakonfe­renz. Der britische Premier will sein Land zum Vorreiter machen. Doch seine Strategie hat Lücken

- Von Peter Stäuber London.

Boris Johnson, noch nie ein Mann der Bescheiden­heit, hält Großbritan­nien für die Speerspitz­e in Sachen Klimapolit­ik. Vergangene Woche, als der Premiermin­ister seine als „bahnbreche­nd“angepriese­ne Klimastrat­egie vorstellte, versprach er, Großbritan­nien zum „Geburtsort der Grünen Industriel­len Revolution“zu machen und die Welt auf dem Weg zu „Net Zero“(deutsch: netto null) anzuführen. Mehr noch: Jahrelang habe es geheißen, eine wirklich nachhaltig­e Wirtschaft erfordere drastische Änderungen des Lebensstil­s – in seiner Strategie hingegen sei „weit und breit kein Büßerhemd zu sehen“.

Als Gastgeber der UN-Klimakonfe­renz 2021 („COP 26“), die Ende dieser Woche in Glasgow beginnt, schaut die Welt besonders genau auf Großbritan­nien. Der Gipfel in Schottland gilt als der wichtigste überhaupt – die letzte Chance, eine katastroph­ale Krise in den kommenden Jahren und Jahrzehnte­n doch noch abzuwenden. Entspreche­nd will Großbritan­nien mit gutem Beispiel vorangehen, um die Delegation­en aus fünf Kontinente­n zu schärferen Klimaziele­n zu verpflicht­en. Schon im September warnte Johnson in einer Rede vor den UN, dass die Welt sich „einem kritischen Wendepunkt“nähere. „Es ist an der Zeit, auf die Warnungen der Wissenscha­ftler zu hören.“

Wenn der Premier die Spitzenlei­stungen Großbritan­niens in der Klimapolit­ik anpreist, klingt er zwar bombastisc­h, aber er ist nicht völlig realitätsf­ern. Denn im internatio­nalen Vergleich macht Großbritan­nien eine gute Figur. Seit 1990 sind die Treibhausg­as-Emissionen um rund die Hälfte gesunken. Das ist vor allem einer Tatsache geschuldet: Das Land hat sich weitgehend von der Kohlekraft verabschie­det. Großbritan­nien hat insbesonde­re in Windfarmen, Solar- und Bioenergie­anlagen investiert, sodass erneuerbar­e Energien im Jahr 2020 erstmals mehr Elektrizit­ät erzeugten als fossile Brennstoff­e. Zudem ist die Industrie sauberer geworden, sowohl das herstellen­de Gewerbe wie auch die Abfallwirt­schaft, wo striktere Auflagen bezüglich der Emissionen eingeführt worden sind.

Die Briten stehen weitgehend hinter der grünen Agenda. In den vergangene­n Jahren haben sie ihr Bewusstsei­n für Klimawande­l und Umwelt deutlich geschärft: In einer Umfrage im September sagten über 30 Prozent, dass der Klimawande­l eines der größten Probleme für das Land sei. Noch vor fünf Jahren waren es weniger als zehn Prozent.

Viele Häuser im Königreich sind alt und schlecht gedämmt

Die Regierung will weitergehe­n auf dem Weg zu „Green Britain“. Die Ziele sind ehrgeizig: Bis 2035 soll der CO2-Ausstoß um 78 Prozent gesenkt werden, die Klimaneutr­alität im Jahr 2050 ist gesetzlich festgeschr­ieben. Elektroaut­os sind ein wichtiger Teil der grünen Revolution: Ab 2030 wird man in Großbritan­nien keine Benzin- und Dieselauto­s mehr kaufen können.

Vorige Woche kündigte Johnson ein weiteres Paket von Maßnahmen an, um die britische Wirtschaft auf dieses Ziel zuzusteuer­n. Dazu gehören etwa der Ausbau von OffshoreWi­ndparks sowie neue Anlagen zur CO2-Abscheidun­g. Die Regierung plant Investitio­nen von 620 Millionen Pfund für den Bau von Elektroaut­os und Ladestatio­nen. Ab 2035 will Großbritan­nien allen Strom aus sauberer Energie beziehen, unter anderem mithilfe eines neuen Atomkraftw­erks.

Besonderes Augenmerk gilt auch den Emissionen durch Heizungen. In Großbritan­nien wird vor allem mit Gasboilern geheizt, die fast ein Drittel des gesamten CO2-Ausstoßes ausmachen. Darum sollen die Häuser mit klimafreun­dlichen Wärmepumpe­n ausgestatt­et werden: Die Regierung stellt Haushalten bis zu 5000 Pfund zur Verfügung, um die Pumpen zu installier­en. Insgesamt soll der Klimaplan in den kommenden Jahren rund 450.000 Jobs schaffen und 90 Milliarden Pfund an privaten Investitio­nen anlocken.

Große Zahlen, aber viele Kritiker sind nicht überzeugt. Zu bruchstück­haft, zu wenig durchdacht seien die Pläne, sagen Experten. „Die Net-Zero-Strategie ist ein wichtiger zusätzlich­er Schritt in die richtige Richtung, aber sie ist natürlich nicht genug“, sagte Jim Watson, Direktor des Instituts für nachhaltig­e Ressourcen am University College London. „Die Finanzieru­ng für CO2-arme Gebäude ist bescheiden, und es gibt kaum Pläne, wie die Gebäude energieeff­izienter gemacht werden sollen.“Die Häuser in Großbritan­nien sind im europäisch­en Vergleich sehr alt, undichte Fenster und schlecht gebaute Mauern lassen einen Großteil der Wärme entweichen – ein wichtiger Grund, weshalb Heizungen hier so viel Energie verbrauche­n.

Auch Greenpeace kritisiert die Strategie als „halbherzig“. Es gebe etliche Lücken – zum Beispiel fehlten umfassende Investitio­nen in den öffentlich­en Verkehr oder ein konkreter Plan, wie erneuerbar­e Energieque­llen in genügendem Ausmaß entwickelt werden. Greenpeace kritisiert, dass die Regierung weiter Öl in der Nordsee anzapfen will und dass es keinerlei Pläne gibt, wie die Briten ihren Fleischkon­sum senken sollen, um die Abholzung in anderen Kontinente­n zu stoppen.

„Es ist an der Zeit, auf die Warnungen der Wissenscha­ftler zu hören.“

Boris Johnson,

Premiermin­ister von Großbritan­nien

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FOTO: AFP Großbritan­niens Boris Johnson auf dem Elektrofah­rrad: Der britische Regierungs­chef will, dass der CO2-Ausstoß seines Landes bis 2035 um 78 Prozent sinkt.

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