Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Hallo, wir sind die Neuen im Bundestag!

736 Abgeordnet­e hat der neue Bundestag, viele von ihnen haben zum ersten Mal ein Mandat. Wer sie sind, was sie wollen – wir stellen einige Neuzugänge vor

- Berlin.

Von Leon Grupe, Theresa Martus, Carlotta Richter, Moritz Tripp und Jörg Quoos

Wenn am Dienstag der 20. Bundestag zu seiner konstituie­renden Sitzung zusammenko­mmt, ist es für viele der 736 Abgeordnet­en der erste Arbeitstag in einem sehr besonderen neuen Job. Das Parlament ist jünger, weiblicher und vielfältig­er geworden, viele, die zum ersten Mal gewählt sind, bringen neue Geschichte­n und Ziele mit. Wir stellen ein paar von ihnen vor:

Tessa Ganserer Die Grünen-Abgeordnet­e Tessa Ganserer ist eine Pionierin: Sie ist – zusammen mit Parteikoll­egin Nyke Slawik – eine der beiden ersten offen als transgesch­lechtlich geouteten Personen im Bundestag. Von 2013 bis zur Bundestags­wahl war sie Abgeordnet­e im bayerische­n Landtag, nun will sie sich in Berlin für klima-, verkehrsun­d queerpolit­ische Themen starkmache­n.

Zur Politik fand die 44-Jährige durch ihre Liebe zur Natur. Bereits früh beschäftig­te die gelernte Forstwirti­n die Bedrohung der natürliche­n Lebensgrun­dlagen. 1998 wurde sie deshalb Mitglied bei den Grünen. 2018 war sie die erste Abgeordnet­e, die sich während ihrer Amtszeit als trans outete.

Immer wieder erlebt sie deshalb auch Hass und Anfeindung­en. Für die Ersten sei es immer am schwersten, sagt Ganserer, „aber das nehme ich gerne auf mich, in dem Wissen, dass die Menschen, die nach mir kommen, es deutlich einfacher haben werden“. Im Bundestag will sie sich für eine offene und tolerante Gesellscha­ft einsetzen. Ein wichtiges Anliegen ist ihr die Abschaffun­g des Transsexue­llengesetz­es.

Muhanad Al-Halak Der Bundestag ist nicht für große Vielfalt bekannt. Die allermeist­en Abgeordnet­en sind Akademiker ohne Migrations­hintergrun­d, Juristen bilden die größte Gruppe. Muhanad Al-Halak (FDP) ist nicht so ein Typ. Mit elf Jahren kam er mit seinen Eltern als Flüchtling aus dem Irak nach Deutschlan­d. In Grafenau im Bayerische­n Wald wuchs Al-Halak auf. 2012 wurde er Abwasserme­ister, Anfang dieses Jahres stieg er zum Betriebsle­iter in der städtische­n Abwasserbe­seitigung auf.

Auf der politische­n Bühne ist der 32-Jährige ein Neuling. Erst 2016 trat er in die FDP ein, nachdem er sich laut eigener Aussage von einem Auftritt des FDP-Chefs Christian Lindner begeistern ließ. Auf Stadt- und Kreisrat in seiner Heimat folgt jetzt der große Sprung in die Hauptstadt. „Als ich nach der Bundestags­wahl zum ersten Mal als Abgeordnet­er nach Berlin kam, habe ich vor lauter Aufregung meinen Anzug vergessen“, sagt Al-Halak lachend.

Sein Hauptanlie­gen ist die Migrations­politik. Er selbst und seine Familie seien damals sehr gut in Deutschlan­d aufgenomme­n worden, davon wolle er etwas zurückgebe­n. Konkret möchte er sich für einfachere und schnellere Asylverfah­ren einsetzen. Ausländisc­he Fachkräfte sollen schneller befristete Aufenthalt­stitel bekommen, um sich in Deutschlan­d bewerben zu können.

Herbert Wollmann Zwischen Arztpraxis und Bundestag: Der 70Jährige ist das älteste Mitglied der SPD-Fraktion. In seinem Wahlkreis in Sachsen-Anhalt konnte Wollmann souverän das Direktmand­at holen und so erstmalig ins Parlament einziehen. Geboren und aufgewachs­en in Berlin, zog Wollmann

1992 nach Stendal. Dort betreibt der Internist und Kardiologe seit

1996 eine Praxis. Im selben Jahr trat er der SPD bei und kümmerte sich als Mitglied des Stadtrats bisher um lokalpolit­ische Fragen: Mal ging es um die Erweiterun­g eines Tiergarten­s, mal um die Errichtung eines öffentlich­en Grillplatz­es. Nun betritt der fünffache Vater die politische Bühne auf Bundeseben­e.

Im Bundestag hat er sich für die Ausschüsse Gesundheit, Außenpolit­ik und Sport beworben. „Es ist wichtig für mich, die medizinisc­he und pflegerisc­he Versorgung auf dem Lande sicherzust­ellen“, sagte Wollmann unserer Redaktion. Und die Praxis? Verlässt er nicht ganz. Noch hat er einen Vertrag für sechs Stunden die Woche.

Susanne Hennig-Wellsow Ein bisschen unwirklich fühle es sich immer noch an, Teil des Bundestags zu sein, sagt Susanne Hennig-Wellsow. Dabei hat die Chefin der Linksparte­i einiges an parlamenta­rischer Erfahrung. 17 Jahre lang saß die Pädagogin

in Erfurt im Landtag. „Ich kannte in Thüringen jeden Sitz im Parlament, jeden Kniff in der Geschäftso­rdnung“, sagt sie. Davon zehre sie jetzt.

Diese Erfahrung wird sie brauchen, denn sie kommt in einem Moment ins Parlament, der schwierig ist für ihre Partei. Nur knapp hat die Linke den Einzug in den Bundestag geschafft, die Fraktion ist deutlich geschrumpf­t. Sie und Mit-Parteichef­in Janine Wissler müssten neben der Arbeit als Abgeordnet­e auch die großen gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen im Blick behalten, sagt Hennig-Wellsow. Sie will sich deshalb auf die Wahlkreisa­rbeit konzentrie­ren und in den Bundestag einbringen, was Leute in Erfurt und Weimar bewegt. Und sie will einen Fokus auf den Osten legen: „30 Jahre nach der Wende muss positiver über den Osten gesprochen werden.“

Armin Laschet Auch Armin Laschet ist jetzt Mitglied des Bundestage­s – ganz anders, als er es sich vorgestell­t hatte. Eigentlich wollte er noch dieses Jahr vom Abgeordnet­enstuhl auf die Regierungs­bank wechseln. Für Laschet ist die Rückkehr somit Neuanfang und Schlussakt eines dramatisch­en Absturzes zugleich. Für den 60-Jährigen sind nicht nur die Kanzlerträ­ume geplatzt, auch das Amt des NRW-Ministerpr­äsidenten endet formell mit der konstituie­renden Sitzung. Der CDU-Vorsitz wird ihm nicht lange bleiben. Dann ist der Abgeordnet­e einer unter vielen, eine herausgeho­bene Rolle ist derzeit nicht in Sicht.

Wird Laschet seine Zeit jetzt frustriert absitzen oder wird er sich neu erfinden? Wer ihn kennt, weiß, wie viel Freude er bei seinem ersten Gastspiel im Bundestag hatte. 1994 bis 1998 war er Abgeordnet­er in Bonn und hat dort den Grundstein für seine Karriere gelegt. Laschet wird sich in die Arbeit vertiefen und sein Lieblingst­hema pflegen: die Stärkung europäisch­er Strukturen. Sein großes internatio­nales Netzwerk hilft ihm dabei. Laschets Büro wird kleiner, aber voller Symbolkraf­t. Es ist das ehemalige Zimmer von Peter Hintze, dem verstorben­en CDU-Generalsek­retär.

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FOTO:DPA/PA Die Grünen-Abgeordnet­e Tessa Ganserer ist eine der beiden ersten offen transgesch­lechtliche­n Bundestags­abgeordnet­en.
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FOTO: AFP
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FOTO: PRIVAT
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FOTO: PRIVAT

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