Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Ostkreuz-Fotografen suchen Europa
Erfurter Kunsthalle zeigt 22 künstlerische Positionen zu unserem Kontinent
22 mal Europa: Bis an die Außengrenzen nehmen die Fotografien ihre Betrachter mit, an die Ränder des Kontinents und der Gesellschaft, dann wieder mitten hinein ins pralle Leben und Miteinander, erzählen von Konflikten, fragen nach Identität, zeigen Menschen in ihrem Umfeld, dokumentieren Idylle, Protest und Terror. Bisweilen gewähren sie private Einblicke in die eigene Familie und Familiengeschichte der beteiligten Fotografen.
22 fotografische Positionen, wie sie unterschiedlicher in ihrer Handschrift kaum sein können, werden derzeit in der Kunsthalle Erfurt gezeigt. „Kontinent – auf der Suche nach Europa“ist der Titel über den etwa 360 Fotos, die bis zum 23. Januar hier zu sehen sind.
Es ist eine Ausstellung der Arbeiten von 23 Ostkreuz-Fotografinnen und -Fotografen, die nach Berlin in Erfurt ihre erst zweite Station macht. 1990 hatten sieben Ostdeutsche die Agentur in Paris gegründet und ihr den Namen des am stärksten frequentierten Umsteigebahnhofs in Berlin gegeben.
Unterschiedlichste Handschriften in einer Ausstellung
Es ist eine Gemeinschaftsausstellung zum 30-jährigen Bestehen dieses Kollektivs, das längst als eine der renommiertesten Fotoagenturen Deutschlands gilt. Zeitgeschehen festzuhalten und Geschichte prägen – das ist seit jeher die Idee hinter dieser Agentur der Fotografen, einst als (ost-)deutsches Pendant zur Magnum-Agentur gegründet, deren Mitglieder sich heute nicht mehr nach Himmelsrichtungen sortieren lassen und neben Deutschland auch Frankreich, Norwegen oder die Ukraine als ihre Geburtsorte benennen. Allen gemein ist ihre humanistische Einstellung und die Absicht, mit der Sprache der Bilder eigene Geschichten zu erzählen.
Die Vielfalt der in der Kunsthalle präsentierten Fotografien und die Fülle unterschiedlichster Ideen hinter den Bildern mag einen schier erschlagen: Jede einzelne Position und Fotografen-Persönlichkeit hat es verdient, sich tiefer mit ihr, den Ideen oder sogar der angewandten Technik auseinanderzusetzen, als es die kurze Worterklärung neben den Bildern anzureißen weiß.
Etwa mit den Fotografien des Fotografen- und Ehepaares Ute und Werner Mahler. Die Mitbegründer der Ostkreuz-Agentur haben sich mit schwerer Plattenkamera, Stativ und Klappleiter auf eine Reise begeben zu den Strömen Europas. An Flüssen, qua Definition müssen sie mehr als 500 Kilometer lang sein und in ein Meer münden, machte das Paar seine Aufnahmen. Verbindend oder trennend, als Transportweg oder Grenze, am Wasser findet das Leben statt. Alle fünf Jahre, so berichten beide, stellen sich die Ostkreuz-Fotografen
einem thematischen Projekt. Fern von der Auftragsarbeit, die sie ernährt. Aber auch um in Zeiten der Handyfotografie in intelligenten, fotografischen Essays der Frage nachzuspüren: „Was ist Fotografie und was kann sie heute leisten?“, wie Kurator Ingo Taubhorn sagt.
Mehrere Jahre sammelte Maurice Weiss Überreste des Zweiten Weltkriegs fotografisch ein – in südfranzösischen Weinkellern ebenso wie in russischen Birkenwäldern. Nicht der offiziellen Erinnerungskultur habe er sich widmen wollen, sondern zeigen, wie präsent der Krieg an diesen Orten noch immer ist. Für ihn ist Europa vor allem ein Ergebnis der Generation, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg einig ist, dass so etwas nie wieder geschehen dürfe.
Jarwick, den ärmsten Ort Großbritanniens, hat Tobias Kruse bereist. Dem gegenüber hängen im Erdgeschoss der Kunsthalle kontrastierend die Bilder aus dem Londoner Bankenviertel von Dawin Meckel. In die norwegische Provinz nimmt Espen Eichhöfer den Betrachter mit. Und Harald Hauswald, bekannt für seine Alltags- und Berlinfotografien, hat eigens eine Seniorenkarte gelöst, um mit seiner Frau im Orientexpress durch die Schweiz, Österreich, Ungarn, Rumänien und Bulgarien bis nach Istanbul zu reisen. Dokumentiert hat er das – ausgerechnet! – mit der Handykamera auf mehr als zehntausend Aufnahmen, von denen er einen kleinen Ausschnitt für die Ausstellung arrangierte. In ihrer alten Heimat im Schwarzwald war Sybille Fendt unterwegs und hat Flüchtlinge porträtiert und deren Hoffnungslosigkeit dokumentiert.
Weitere Fotografen sind: Jörg Brüggemann, Johanna-Maria Fritz, Annette Hauschild, Heinrich Holtgreve, Thomas Meyer, Frank Schinski, Jordis Antonia Schlösser, Ina Schoenenburg, Anne Schönharting, Linn Schöder, Stephanie Steinkopf, Mila Teshaieva, Heinrich Voelkel, Sebastian Wells und Sibylle Bergmann (1941-2010). Damit nicht genug: Parallel zur Ostkreuz-Ausstellung werden die Arbeiten von vier Dokumentarfotografie-Förderpreisträgern der Wüstenrotstiftung ausgestellt: Christian Kasners, Jiwon Kim, Jens Klein und Joscha Steffens.
Wer tiefer einsteigen möchte ins Thema, der kann in einem Podcast den beteiligten Fotografen lauschen oder im Audioguide, der in der Kunsthalle zur Verfügung steht. Erstmals gebe es dazu in der Kunsthalle freies W-Lan für alle, um besagte Inhalte abrufen zu können, wie Direktor Kai Uwe Schierz verrät. Er verweist zudem auf Termine öffentlicher Führungen.