Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Bärbel Bas will mehr Bürgernähe und verständliche Politik
Neue Bundestagspräsidentin ist dritte Frau im Amt. Thüringer AfD-Kandidat fällt als Vize durch
Die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas hat in ihrer Antrittsrede für mehr Bürgernähe und eine verlässlichere Politik geworben. Der Bundestag sei in dieser Legislaturperiode besonders jung und besonders vielfältig, das sei „eine Chance für uns alle“, sagte die 53Jährige. Das Parlament solle Politik hinaustragen in die Gesellschaft. Bürger, die mitdenken und über politische Entscheidungen mitstreiten wollten, würden nicht gleich losschreien und andere niedermachen, sagte Bas. Ganz bewusst müsse sich der Bundestag um die Mitte der Gesellschaft kümmern, die bisher häufig nicht so laut sei, dass sie Gehör finde. Bas ist erst die dritte Frau an der Spitze des Parlaments seit 1949, nach Annemarie Renger (SPD) und Rita Süssmuth (CDU).
Wieder nicht im Bundestagspräsidium vertreten ist die AfD. Ihr Kandidat Michael Kaufmann erhielt nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmen. 553 Abgeordnete stimmten gegen ihn, 118 für den Thüringer Abgeordneten und dortigen Landtagsvizepräsidenten. 29 enthielten sich, 27 Stimmen war ungültig.
Bärbel Bas ist am Dienstagvormittag eine sehr beliebte Frau. Im Minutentakt kommen im Plenarsaal des Reichstags Abgeordnete zu der 53-jährigen Duisburgerin, um ein Selfie mit ihr zu machen. Maske ab, Foto, Maske wieder auf, da kommt schon der oder die Nächste, die meisten sind Frauen.
Ein Bild mit der neuen Bundestagspräsidentin, das ist auch für viele gestandene Parlamentarierinnen etwas Besonderes. Denn Bas, die in der konstituierenden Sitzung des 20. Bundestags zur Parlamentspräsidentin gewählt wurde, ist erst die dritte Frau überhaupt, die dieses Amt übernimmt. Mit Annemarie Renger und Rita Süssmuth gab es nur zwei Vorgängerinnen – wenig genug, um die Wahl der SPD-Politikerin eine historische zu nennen. Die Personalie passt zu diesem Bundestag, der jünger, weiblicher und vielfältiger ist als zuvor.
„Wir sollten den Streit in der Mitte der Gesellschaft suchen und ihn öffentlich hier im Parlament austragen.“
Wolfgang Schäuble, Alterspräsident des Bundestags
Doch am Dienstagmorgen liegt Bas’ Wahl noch in der Zukunft, und die Sitzung eröffnet einer, der mehr von der Geschichte dieses Parlaments erlebt hat als alle anderen Abgeordneten. Für Wolfgang Schäuble (CDU), der seit fast 50 Jahren Parlamentarier ist und zahlreiche einflussreiche Posten in Parlament und Regierung hatte, ist es der letzte Tag in einer herausgehobenen Funktion. Von Mittag an, wenn seine Nachfolgerin im Bundestagspräsidentenamt gewählt ist, ist Schäuble einer von vielen im Bundestag.
Doch zuvor hat er als Alterspräsident noch einmal die große Bühne, und er nutzt sie für einen eindringlichen Appell an seine Kolleginnen und Kollegen. Dass beim Wahlrecht in der vergangenen Legislatur keine echte Reform zustande gekommen sei, sei für ihn persönlich eine bittere Erfahrung gewesen, sagt Schäuble. Mit der Bundestagswahl sei eine Reform nicht leichter geworden. „Und trotzdem, sie duldet ersichtlich keinen Aufschub“, sagt der dienstälteste Abgeordnete.
Er wirbt in seiner Rede auch für das Parlament als Ort des politischen Streits nach fairen Regeln – der Bundestag sei „nicht bloß eine notarielle Veranstaltung, um Koalitionsverträge abzuarbeiten“. Zugleich warnt er davor, zu glauben, dass das Parlament genau so zusammengesetzt sein müsse wie die Gesellschaft, um diese gut vertreten zu können: Repräsentativität sei nicht gleich Repräsentation.
Wenig später überlässt er die Bühne seiner Nachfolgerin: Mit 576 von 724 Stimmen wird am Mittag Bärbel Bas als Präsidentin des 20. deutschen Bundestags gewählt, unter großem Beifall. Gratulanten drängen sich um die neue Präsidentin, die Blumensträuße stapeln sich neben dem mutmaßlichen nächsten Kanzler Olaf Scholz auf der ersten Bank der SPD-Fraktion, bevor sie von den Saaldienern abgeräumt werden.
Auch wenn es bereits zwei Bundestagspräsidentinnen gegeben habe, „als Zeitenwende empfinde ich meine Wahl dennoch“, sagt Bas in ihrer Antrittsrede. Die Verantwortung sei lange noch nicht gerecht auf alle Schultern verteilt. Daran zu arbeiten, sehe sie als eine ihrer Aufgaben. Die Sozialdemokratin, die sich vor ihrer parlamentarischen Karriere von einem Hauptschulabschluss über Fortbildungen bis zur Leiterin des Personalservice einer Krankenkasse vorgearbeitet hatte, will ein Parlament, das wieder mehr Bürgernähe ausstrahlt. „Lassen Sie uns viele Menschen ansprechen“, appelliert sie, „auf die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zugehen, vor allem auf jene, die sich von der Politik seit Langem nicht mehr angesprochen fühlen.“
Auf der Besuchertribüne hört eine Amtsvorgängerin zu: Rita Süssmuth, von 1988 bis 1998 Bundestagspräsidentin, gehört an diesem Tag zu den Ehrengästen, ebenso wie Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR.
Wie viel sich seit ihrer aktiven Zeit geändert hat, zeigt ein Blick auf das restliche Präsidium: Mit Aydan Özoguz (SPD), Yvonne Magwas (CDU), Claudia Roth (Grüne) und Petra Pau (Linke) wählt der Bundestag vier Frauen zu Bas’ neuen Stellvertreterinnen. Für die FDP wird Wolfgang Kubicki gewählt.
Allein Michael Kaufmann aus Thüringen, Kandidat der AfD für einen Stellvertreterposten, fällt durch. Kaufmann, der bereits im Landtag in Thüringen Vizepräsident ist, bekommt keine Mehrheit, so wie bislang alle Kandidatinnen und Kandidaten der AfD-Fraktion. Mit der erst 2017 eingeführten Regelung, dass nicht der nach Jahren älteste, sondern der dienstälteste Parlamentarier als Alterspräsident die Sitzung eröffnet, hadert die AfD noch immer. In fast zwei Jahrhunderten parlamentarischer Geschichte in Deutschland sei nur einmal mit dieser Tradition gebrochen worden, sagte der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, in einer Rede – nämlich 1933, unter dem Parlamentspräsidenten Hermann Göring. „Soll das Ihr Vorbild sein?“, fragte Baumann die anderen Fraktionen.
Ein Scharmützel, wie wohl noch einige folgen werden in den nächsten vier Jahren. Angela Merkel allerdings wird die meisten davon nicht mehr im Parlament erleben. Die geschäftsführende Bundeskanzlerin verfolgt die Sitzung von der Besuchertribüne aus. Zum ersten Mal seit 16 Jahren.