Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
„Steuerentlastungen fest im Blick“
FDP-Generalsekretär Volker Wissing über den Start der Ampel-Verhandlungen und die Aufhebung der Corona-Notlage
An diesem Mittwoch nehmen 22 Arbeitsgruppen die Verhandlungen über eine Ampelkoalition auf. FDP-Generalsekretär Volker Wissing sagt im Interview mit unserer Redaktion, woran ein Bündnis mit SPD und Grünen noch scheitern könnte.
Die Infektionszahlen steigen sprunghaft. Ist es klug, in dieser Situation die Corona-Notlage aufzuheben?
Volker Wissing: Wir werden in den Gesprächen mit SPD und Grünen eine Antwort finden, die der aktuellen Situation angemessen ist. Die Haltung der FDP ist klar: Der Ausnahmezustand darf kein Dauerzustand werden. Wir müssen zu einer neuen Normalität kommen, und das so schnell wie möglich. Der Deutsche Bundestag muss die Dinge wieder entscheiden – und nicht die Bundesregierung mit einer weitgehenden Ermächtigung.
Mediziner fordern, die Maßnahmen wieder zu verschärfen.
Die Bundesländer haben die Möglichkeit, auf regionales Infektionsgeschehen sehr präzise und maßvoll zu reagieren. Ich sehe keinen Grund, jetzt nationale Verschärfungen anzuordnen – im Gegenteil. Wir dürfen nicht ignorieren, welche Folgen diese Corona-Maßnahmen haben. Es sind schwerste soziale, gesundheitliche, psychische, wirtschaftliche und auch kulturelle Schäden in unserer Gesellschaft entstanden. Wir müssen zu einem Abwägungsprozess kommen, der anders ist als in der Vergangenheit. Mit einer hohen Impfquote in der Bevölkerung haben wir eine ganz andere Lage.
Wie denken Sie über den FußballNationalspieler Joshua Kimmich, der öffentlich seine Impfskepsis verbreitet?
Wir leben in einem Land der Meinungsfreiheit. Und prominent zu sein, bedeutet ja nicht, dass man seine Meinungsfreiheit verliert. Ob es allerdings besonders verantwortungsvoll ist, was Herr Kimmich gesagt hat, steht auf einem anderen Blatt. Gerade wenn man prominent ist, sollte man seine Meinung überprüfen, ob sie Vertrauen schafft oder Vertrauen zerstört.
In den Sondierungen mit SPD und Grünen hat sich die FDP in zentralen Fragen durchgesetzt: Die Steuern steigen nicht einmal für Spitzenverdiener, und die Schuldenbremse bleibt unangetastet. Woher soll das Geld für Investitionen kommen?
Es geht in diesen Gesprächen nicht darum, dass der eine sich gegen den anderen durchsetzt, sondern dass man einen vernünftigen Weg findet. Wir brauchen Investitionen in Klimaneutralität vor allem im privatwirtschaftlichen Bereich. Und Steuererhöhungen sind der Investitionskiller schlechthin. Wir müssen einen Weg finden, wie wir diese dringend benötigten privaten Investitionen beschleunigen. Förderprogramme sind eine Möglichkeit.
Für die Entlastung niedrigerer Einkommen sei kein Geld mehr da, sagen Olaf Scholz und Robert Habeck – und geben der FDP dafür die Schuld.
Ich bin zunächst einmal überrascht, dass die Steuererhöhungen, die SPD und Grüne im Wahlkampf gefordert haben, ständig für etwas anderes verwendet werden sollten. Erst für Klimaschutz, jetzt für Entlastungen. Es bringt uns aber nicht weiter, wenn jeder Verhandlungspartner darüber spricht, was er machen würde, wenn er alleine regieren könnte. Wir haben die Aufgabe, gemeinsam an der Bildung einer Regierung zu arbeiten, hinter der sich alle aus Überzeugung versammeln können. Wir sollten deshalb nicht in den Wahlkampfmodus zurückfallen. Das bringt keinen weiter, und daran wird sich die FDP auch nicht beteiligen.
Ist eine Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen denn noch möglich?
Sie wäre jedenfalls mehr als angebracht. Deshalb behalten wir sie fest im Blick. Im Sondierungspapier haben wir Grundsatzfragen geklärt, die besonders strittig waren. Darüber hinaus gibt es viele Themen, bei denen die drei Partner übereinstimmen. Auch wenn die Steuerentlastungen im Sondierungspapier nicht aufgeführt sind, bedeutet das nicht, dass wir nicht mehr darüber sprechen. Wir stehen ja erst am Anfang von Koalitionsverhandlungen.
Was machen Sie, wenn Sie das Finanzministerium nicht bekommen? Verlassen Sie – wie vor vier Jahren bei Jamaika – die Verhandlungen?
Diese Frage liegt jetzt nicht auf dem Tisch. Erst müssen wir klären, was wir uns gemeinsam vornehmen und wie wir das finanzieren. Danach sprechen wir über den Ressortzuschnitt – und anschließend muss geklärt werden, welcher Partner welchen Bereich übernimmt.
Bleibt Nichtregieren eine Option?
Es gibt keine rechtliche Verpflichtung, einen Koalitionsvertrag zu unterschreiben. Jeder ist frei, ob er seinen Namen darunter setzt oder nicht. Die Verhandlungen können theoretisch also auch scheitern. Aber das wäre nicht gut, und es ist auch nicht sehr wahrscheinlich. Ich habe keinerlei Grund zur Annahme, dass jemand das Sondierungspapier infrage stellt.
Und wenn doch?
Eine große Koalition mit einer Union auf der Suche nach sich selbst wäre derzeit jedenfalls keine wirklich gute Alternative. Daher ist ein Scheitern der Koalitionsverhandlungen keine Option.
„Es sind schwerste soziale, gesundheitliche, psychische, wirtschaftliche und auch kulturelle Schäden in unserer Gesellschaft entstanden.“