Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Landschaft als Kulturraum
Der Dichter und Literaturwissenschaftler Jan Röhnert schreibt „Vom Gehen im Karst“
„Man muss aufpassen, wenn man dort geht“, berichtet Jan Röhnert dieser Tage, bei einer Buchvorstellung in der Villa Rosenthal. Ob auf dem Hausberg bei Jena, im Südharz oder in Slowenien: „Es kann sich der Boden unter einem auftun oder man kann abrutschen.“
Insofern hat Röhnert zum Karst ein reichlich adäquates Buch vorgelegt. Wer es liest, betritt gleichsam unwegsames Gelände. Stolpern ist, ein Wort des Autors, einkalkuliert.
Stolpern würden auch Juroren für Buch- oder Literaturpreise über „Vom Gehen im Karst“, wie Röhnert einräumt. Der Verlag, Matthes & Seitz in Berlin, verbucht das unter Belletristik; das trifft es aber so wenig wie „Nature Writing“, wofür dieser Verlag mit dem Bundesamt für Naturschutz einen Preis auslobt.
Ein geologisches oder literaturwissenschaftliches Buch ist es auch nicht. Oder anders: „Vom Gehen im Karst“ist von allem ein bisschen und nichts davon. Es ist von eigener Kategorie, indem es andere getrennte Kategorien zusammendenkt.
Es lässt sich kaum klassifizieren, es lässt sich nur erkunden.
„Es gibt im Karst keinen Weg, außer man geht ihn“, heißt es darin. „Die Wege im Karst sind nur zu Fuß zurückzulegen.“Oder eben lesend, in diesem Buch. Verschiedenes zusammenbringen und mit dem Eigenen verknüpfen – darum war es Jan Röhnert zu tun: Lyriker und Literaturwissenschaftler aus Gera, Jahrgang 1976, der in Jena studierte und promovierte, seit zehn Jahren Professor in Braunschweig ist, für neuere und neueste Literatur in der technisch-wissenschaftlichen Welt.
Ein Buch in der Reihe „Naturkunden“von Judith Schalansky
Den Karst geistig und körperlich zu durchdringen, „diese porösen, vielen als reiz- und gestaltlos geltenden Landstriche“, ermöglichte ihm die Volkswagen-Stiftung mit der Initiative „Originalitätsverdacht?“. Denn: „Das Gehen im Karst wäre folgenlos ohne das simultane Lesen im Karst und die Wiederholung des Gehens beim Schreiben vom Karst geblieben“, notiert Röhnert.
Entstanden ist einer von inzwischen fast achtzig Bänden in der vorzüglichen Reihe „Naturkunden“, die die Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky („Atlas der abgelegenen Inseln“) bei Matthes & Seitz betreut.
„Karst“, ein aus dem slowenischen „kras“eingedeutschter Begriff für steinigen und unfruchtbaren Boden, bezeichnet ein weltweites natürliches wie auch durch Bergbau vorkommendes Landschaftsphänomen. In Slowenien indes liegt der „Mutterkarst“.
Man geht durch ewig veränderliche Kalk- oder Sandsteinlandschaften: „ein unstetes Gestein“, so Röhnert, der in der unterirdischen Entwässerung „das Grundmerkmal des Karsts“vermutet. Höhlen bilden sich. Mythologien ebenfalls. „Die Vorstellung von Orpheus’ Gang in die Unterwelt“, schreibt Röhnert einmal, „bedarf des Karsts als topgrafischem Hintergrund.“Und das poröse Gestein, das ganze Gegenteil von Granit, dem Goethe den Vorzug gab, hat „dieselbe Farbe und Substanz wie unsere Knochen“. Röhnert verlässt das Dickicht der
Städte und durchkämmt das Gestrüpp einer Gegenwelt. Hier sucht und findet, verliert und entdeckt er letztlich den Menschen wieder. „Ich“ist das erste Wort seines Textes, sich als Kind der Sandsteinhügel am Hermsdorfer Kreuz erinnernd. Das „Ich und „Wir“taucht unvermittelt ab und auf; alle Menschen, alles Menschliche, von dem die Rede ist, integriert Röhnert in den „Kulturraum Landschaft.“
Karst-Dichtung in Textlandschaften von Handke, Rilke oder Cibulka
Das schließt Geschichte und Geschichten ein: die Karsthöhlen von Mittelbau-Dora, mit KZ-Häftlingen und V2-Raketen, oder italienische Karstjäger der Waffen-SS auf Partisanenfang. „Seltsam, wie sich im Karst immer wieder die Verwerfungen und Katastrophen der Erd- und Menschengeschichte begegnen.“
Die Landschaft als Kulturraum begreift er, im Sinne des Dichters Wulf Kirsten, als poetischen Text. Und in poetischen Texten erlebt er Landschaft: mit Peter Handkes
„Die Wiederholung“in Slowenien, Rilkes „Duineser Elegien“, begonnen auf Schloss Duino im Karst von Triest, auch in den „Dornburger Blättern“von Hanns Cibulka aus Gotha (dem die „Naturkunden“übrigens bereits zwei Bücher widmeten). In solchen Passagen siegt der Literaturwissenschaftler jedoch leider zu oft über den Poeten.
Ansonsten macht er den Leser zum stillen geduldigen Begleiter seiner Wanderungen, die er detailreich und präzise nachdichtet. Jede Pflanze, jeder Vogel findet Platz. So zeige sich Schutzwürdigkeit, sagt Röhnert im Jenaer Gespräch mit Umweltministerin Anja Siegesmund: in dem man etwas benennt.
„Wir haben in Thüringen die größte zusammenhängende Gipskarstlandschaft Europas“, so Siegesmund. Und wir haben Gipsabbau. Natur scheint gegen Kultur zu stehen. Röhnert verdichtet sie indes überzeugend zu einer Einheit.
Jan Röhnert, „Vom Gehen im Karst“, Matthes & Seitz, 184 Seiten, 28 Euro.