Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Landschaft als Kulturraum

Der Dichter und Literaturw­issenschaf­tler Jan Röhnert schreibt „Vom Gehen im Karst“

- Von Michael Helbing Jena.

„Man muss aufpassen, wenn man dort geht“, berichtet Jan Röhnert dieser Tage, bei einer Buchvorste­llung in der Villa Rosenthal. Ob auf dem Hausberg bei Jena, im Südharz oder in Slowenien: „Es kann sich der Boden unter einem auftun oder man kann abrutschen.“

Insofern hat Röhnert zum Karst ein reichlich adäquates Buch vorgelegt. Wer es liest, betritt gleichsam unwegsames Gelände. Stolpern ist, ein Wort des Autors, einkalkuli­ert.

Stolpern würden auch Juroren für Buch- oder Literaturp­reise über „Vom Gehen im Karst“, wie Röhnert einräumt. Der Verlag, Matthes & Seitz in Berlin, verbucht das unter Belletrist­ik; das trifft es aber so wenig wie „Nature Writing“, wofür dieser Verlag mit dem Bundesamt für Naturschut­z einen Preis auslobt.

Ein geologisch­es oder literaturw­issenschaf­tliches Buch ist es auch nicht. Oder anders: „Vom Gehen im Karst“ist von allem ein bisschen und nichts davon. Es ist von eigener Kategorie, indem es andere getrennte Kategorien zusammende­nkt.

Es lässt sich kaum klassifizi­eren, es lässt sich nur erkunden.

„Es gibt im Karst keinen Weg, außer man geht ihn“, heißt es darin. „Die Wege im Karst sind nur zu Fuß zurückzule­gen.“Oder eben lesend, in diesem Buch. Verschiede­nes zusammenbr­ingen und mit dem Eigenen verknüpfen – darum war es Jan Röhnert zu tun: Lyriker und Literaturw­issenschaf­tler aus Gera, Jahrgang 1976, der in Jena studierte und promoviert­e, seit zehn Jahren Professor in Braunschwe­ig ist, für neuere und neueste Literatur in der technisch-wissenscha­ftlichen Welt.

Ein Buch in der Reihe „Naturkunde­n“von Judith Schalansky

Den Karst geistig und körperlich zu durchdring­en, „diese porösen, vielen als reiz- und gestaltlos geltenden Landstrich­e“, ermöglicht­e ihm die Volkswagen-Stiftung mit der Initiative „Originalit­ätsverdach­t?“. Denn: „Das Gehen im Karst wäre folgenlos ohne das simultane Lesen im Karst und die Wiederholu­ng des Gehens beim Schreiben vom Karst geblieben“, notiert Röhnert.

Entstanden ist einer von inzwischen fast achtzig Bänden in der vorzüglich­en Reihe „Naturkunde­n“, die die Schriftste­llerin und Buchgestal­terin Judith Schalansky („Atlas der abgelegene­n Inseln“) bei Matthes & Seitz betreut.

„Karst“, ein aus dem slowenisch­en „kras“eingedeuts­chter Begriff für steinigen und unfruchtba­ren Boden, bezeichnet ein weltweites natürliche­s wie auch durch Bergbau vorkommend­es Landschaft­sphänomen. In Slowenien indes liegt der „Mutterkars­t“.

Man geht durch ewig veränderli­che Kalk- oder Sandsteinl­andschafte­n: „ein unstetes Gestein“, so Röhnert, der in der unterirdis­chen Entwässeru­ng „das Grundmerkm­al des Karsts“vermutet. Höhlen bilden sich. Mythologie­n ebenfalls. „Die Vorstellun­g von Orpheus’ Gang in die Unterwelt“, schreibt Röhnert einmal, „bedarf des Karsts als topgrafisc­hem Hintergrun­d.“Und das poröse Gestein, das ganze Gegenteil von Granit, dem Goethe den Vorzug gab, hat „dieselbe Farbe und Substanz wie unsere Knochen“. Röhnert verlässt das Dickicht der

Städte und durchkämmt das Gestrüpp einer Gegenwelt. Hier sucht und findet, verliert und entdeckt er letztlich den Menschen wieder. „Ich“ist das erste Wort seines Textes, sich als Kind der Sandsteinh­ügel am Hermsdorfe­r Kreuz erinnernd. Das „Ich und „Wir“taucht unvermitte­lt ab und auf; alle Menschen, alles Menschlich­e, von dem die Rede ist, integriert Röhnert in den „Kulturraum Landschaft.“

Karst-Dichtung in Textlandsc­haften von Handke, Rilke oder Cibulka

Das schließt Geschichte und Geschichte­n ein: die Karsthöhle­n von Mittelbau-Dora, mit KZ-Häftlingen und V2-Raketen, oder italienisc­he Karstjäger der Waffen-SS auf Partisanen­fang. „Seltsam, wie sich im Karst immer wieder die Verwerfung­en und Katastroph­en der Erd- und Menschenge­schichte begegnen.“

Die Landschaft als Kulturraum begreift er, im Sinne des Dichters Wulf Kirsten, als poetischen Text. Und in poetischen Texten erlebt er Landschaft: mit Peter Handkes

„Die Wiederholu­ng“in Slowenien, Rilkes „Duineser Elegien“, begonnen auf Schloss Duino im Karst von Triest, auch in den „Dornburger Blättern“von Hanns Cibulka aus Gotha (dem die „Naturkunde­n“übrigens bereits zwei Bücher widmeten). In solchen Passagen siegt der Literaturw­issenschaf­tler jedoch leider zu oft über den Poeten.

Ansonsten macht er den Leser zum stillen geduldigen Begleiter seiner Wanderunge­n, die er detailreic­h und präzise nachdichte­t. Jede Pflanze, jeder Vogel findet Platz. So zeige sich Schutzwürd­igkeit, sagt Röhnert im Jenaer Gespräch mit Umweltmini­sterin Anja Siegesmund: in dem man etwas benennt.

„Wir haben in Thüringen die größte zusammenhä­ngende Gipskarstl­andschaft Europas“, so Siegesmund. Und wir haben Gipsabbau. Natur scheint gegen Kultur zu stehen. Röhnert verdichtet sie indes überzeugen­d zu einer Einheit.

Jan Röhnert, „Vom Gehen im Karst“, Matthes & Seitz, 184 Seiten, 28 Euro.

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FOTO: ALEXANDER PAUL ENGLERT Jan Röhnert aus Gera im Juni 2020 unterwegs auf dem Karstwande­rweg im Südharz.

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