Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Als van Gaal die Wände wackeln ließ
30 Jahre Uefa-Cup (19) Wie Torsten Ehlert die Kabinenpredigt des holländischen Star-Trainers auf Video festhielt
Am Ende stand die Qualifikation für die 2. Bundesliga und den Uefa-Cup. Die 40. und letzte Saison der DDRFußball-Oberliga 1990/91 war für den FC Rot-Weiß Erfurt zugleich die erfolgreichste. In unserer Serie blicken wir mit Protagonisten von einst auf die EuropapokalPartien vor 30 Jahren zurück. Heute: Torsten Ehlert (58), der am 23. Oktober 1991 in der Halbzeitpause des Hinspiels gegen Ajax Amsterdam die Wutrede von Cheftrainer Louis van Gaal aufzeichnete.
Das hatte das altehrwürdige, mittlerweile aber abgerissene „Steinhaus“auf dem Erfurter Stadiongelände noch nicht erlebt. Als Louis van Gaal in der Halbzeitpause des Uefa-Cup-Hinspiels (1:2) seiner Wut freien Lauf ließ, wackelten förmlich die Wände. Wie das Trommelfeuer eines Gewehres schoss der Ajax-Trainer seine Salven ab: „Ihr müsst den Krieg gewinnen“, feuerte er seinen Spielern an jenem 23. Oktober 1991 entgegen. „Ihr müsst ihn gewinnen. Jedes Mal müsst Ihr die Zweikämpfe angehen und sie gewinnen. Zehn Chancen hatten wir schon; einige halbe, einige ganze. Und jetzt ist es zu spät – 1:0.“
Draußen vor der Gästekabine stand, an die Wand gelehnt, RotWeiß-Manager Siegmar Menz und grinste verschmitzt. Selbst wenn er gewollt hätte, ein Weghören wäre nicht möglich gewesen. Van Gaals Donnerwetter hallte lauthals durch den schmalen Flur und kam sogar auf der gegenüberliegenden Seite bei der Erfurter Mannschaft an.
„Wir haben zwar nicht verstanden, was er gemeint hat“, erinnert sich Uwe Schulz. „Dass er mächtig sauer war, war uns aber allen klar. Und das hat uns mächtig gefreut.“
Mit seinem Treffer am Ende der ersten Hälfte (39.) hatte der Mittelfeldspieler den Außenseiter überraschend in Führung – und damit den holländischen Cheftrainer auf die Palme gebracht. Durch Zufall hielt Torsten Ehlert die denkwürdige Ansprache auf einer VHS-Kassette fest. „Weil das Spiel selbst ja live im Fernsehen übertragen wurde, wollte ich eigentlich ein paar Nebenschauplätze filmen – unter anderem den Gang der Spieler in die Kabine“, verrät er 30 Jahre später. „Als es drinnen aber losging und laut wurde, blieb ich natürlich drauf.“
Seit 1988 war der Sohn des langjährigen Rot-Weiß-Masseurs Dieter Ehlert für den Verein als Videotechniker im Einsatz. Er nahm sowohl die eigenen Spiele auf und schnitt sie zur Auswertung und Fehleranalyse auf etwa 20 Minuten zusammen als auch Partien des kommenden Gegners. So war er im Vorfeld der Zweitrunden-Begegnungen gemeinsam mit Co-Trainer Rüdiger Schnuphase nach Amsterdam gereist, um das holländische Starensemble
gegen Sparta Rotterdam (4:0) zu beobachten. Ein Ausflug, den sie sich jedoch hätten sparen können. Dichte Nebelschwaden sorgten dafür, dass auf dem Video kaum etwas zu erkennen war.
Trotzdem schien der damalige Zweitliga-Letzte bestens eingestellt auf den prominent bestückten Kontrahenten. Mit Kampfgeist und Laufstärke kompensierten die Erfurter die spielerischen Vorteile der Gäste – und träumten zumindest eine Halbzeit lang von der nächsten Sensation. Schon das Überstehen der ersten Runde gegen den FC Groningen – immerhin Tabellendritter der Ehrendivision – hatten kaum jemand für möglich gehalten. „Dass wir nun auch Ajax ein bisschen ärgern konnten, war natürlich schön“, sagt Jürgen Heun.
Allerdings verfehlte van Gaals Kabinenpredigt ihre Wirkung nicht. Wenige Sekunden der zweiten Halbzeit waren vergangen, da hatten die Amsterdamer ausgeglichen (46./Jonk) und später noch das Siegtor erzielt (77./Bergkamp). Der heutige Bondscoach der Nationalmannschaft schien seine Spieler an der Ehre gepackt und aufgerüttelt zu haben. „Vielleicht hatten sie auch Angst, noch einmal so zusammengestaucht zu werden“, meint Torsten Ehlert schmunzelnd.
Die Kassette mit dem explosiven Inhalt lag über Jahre zu Hause in seinem Schrank und wäre beinahe in Vergessenheit geraten. Ende der
1990er-Jahre hatte er die Kamera nämlich ausgeschaltet und war in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Von 2004 bis 2013 setzte Ehlert gemeinsam mit Bruder Dirk die seit
1965 währende Familientradition fort und betreute die Rot-WeißMannschaft physiotherapeutisch. Nicht selten war das Duo auch als Seelentröster gefragt, wenn unzufriedene Spieler auf der Massagebank ihr Herz ausschütteten.
Auch wenn er die Oberliga-Spiele heute nur aus der Ferne verfolgt, hängt sein Herz noch immer an dem Verein. Und denkt der 58-Jährige an die Duelle mit Ajax zurück, gerät er ins Schwärmen: „Im Nachhinein war es damals nicht nur politisch eine aufregende Zeit, sondern sportlich für Rot-Weiß der Wahnsinn. Vor allem, wenn man bedenkt, wo der Club heute steht.“Lediglich die spärliche Kulisse von 6000 Zuschauern, die wäre dem Ereignis nicht angemessen gewesen. Denn höchstwahrscheinlich, so realistisch ist Torsten Ehlert, wird die Uefa-Cup-Teilnahme 1991 für Erfurt eine einmalige Sache bleiben.
Van Gaals Kabinenpredigt: https://www.youtube.com/ watch?v=HFhLmKTmPm8
Bereits erschienen: Armin Romstedt (6.4.), Thomas Linke (13.4.), Karsten Sänger
(19.4.), Thomas Vogel (27.4.), Uwe Abel
(4.5.), Jürgen Heun (11.5.), Nico Scheller
(17.5.), Zbigniew Fabinski (25.5.), Olaf Schwertner (6.7.), Siegmar Menz (16.8.), Lothar Kurbjuweit (23.8.), Rüdiger Schnuphase (30.8.), Rainer Stops (11.9.), Peter Disztl (18.9.), Rolf Töpperwien (23.9.), Tino Gottlöber (2.10.), Piet Schönberg
(14.10.), Uwe Schulz (23.10.)