Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Schule war total behindernd“

Kassandra Wedel verlor als Kind ihr Gehör. Jetzt spielt sie in der Serie „Die jungen Ärzte“mit

- Sibylle Göbel

Die gehörlose Tänzerin und Schauspiel­erin Kassandra Wedel übernimmt eine wiederkehr­ende Rolle in der ARD-Serie „In aller Freundscha­ft – Die jungen Ärzte“, die in Erfurt gedreht wird. Die 38Jährige spielt die neue Oberärztin Alicia Lipp. „Es braucht mehr Taube* diverse Charaktere im Fernsehen – und meine Rolle ist ein Anfang dafür“, sagt Wedel. Wir haben die gebürtige Hessin, die als Vierjährig­e infolge eines Autounfall­s ihr Gehör verlor, schriftlic­h befragt: Erinnern Sie sich noch an die Zeit, in der Sie hörend waren?

Mit Fragen zur Erinnerung ist immer die Frage verbunden, was Erinnern eigentlich bedeutet. Ich erinnere mich nicht, aber mein Körper erinnert sich. Wie verständig­en Sie sich mit anderen: durch Gebärdensp­rache oder in Lautsprach­e?

Ich nutze beides. Es kommt auf mein Gegenüber an. Kommunikat­ion ist nicht einseitig. Hörenden Menschen – vor allem Deutschen – wurde im Gegensatz zu Italienern Körperspra­che meist aberzogen, sodass sie gehemmt sind zu improvisie­ren. Schade eigentlich. Dann müssen sie halt schreiben. Wie haben Sie das jeweils gelernt?

Ich konnte vor meinem Unfall schon sprechen. Ich habe es also nicht verlernt und hatte nie eine logopädisc­he Therapie. Einen Gebärdensp­rachkurs habe ich als Neunjährig­e mit meiner Mom bei Tauben Gebärdensp­rachdozent­innen besucht. Aber so richtig gelernt habe ich die Gebärdensp­rache erst in der Anwendung mit Gleichgesi­nnten. Wie ist es, wenn Sie Musik hören beziehungs­weise die erzeugten Vibratione­n: Denken Sie sich beim Tanzen dazu eine Melodie aus?

Zu fühlbarer Musik denke ich mir eigentlich keine Melodie aus. Ich finde es immer lustig, dass viele glauben, man sei von einer Melodie abhängig. Ohne sie bin ich viel freier, auf den Rhythmus zu choreograp­hieren. Eine Melodie erzeuge ich nur, wenn aus meinem Inneren heraus keine Musik läuft. Oder sie entsteht durch Bässe und Rhythmen – je nach Gefühl. Was macht für Sie die Faszinatio­n des Tanzens aus?

Mit Tanzen kann man alles abstrakt ausdrücken, das fasziniert mich.

Tanzen ist so vieles: Selbstregu­lation, es kann heilend wirken, das Selbstbewu­sstsein stärken und dabei fit halten. Wie kamen Sie zur Schauspiel­erei?

Ich habe von klein auf Theater gespielt. Später habe ich Theaterwis­senschafte­n studiert und autodidakt­isch Schauspiel und Theater in Gebärdensp­rache sowie Gebärdensp­rachen-Kunst erforscht. Das hätte mir keine hörende Person beibringen können. Hat Ihnen das jemals jemand auszureden versucht?

Oh ja, gefühlt jeder außer meiner Mutter. Aber das war mir egal. Ich habe diesen Menschen nicht geglaubt. In welcher Weise kommunizie­ren Sie mit Ihren Kollegen von den „Jungen Ärzten“vor der Kamera?

Zweisprach­ig – ich gebärde und spreche und einige Kollegen ebenfalls. Zudem kommt ein Tablet zum Einsatz, damit Dr. Lipp das Gesprochen­e mitlesen kann, und es werden auch mal Stift und Papier verwendet. Ist es schwierig, zu einem gestandene­n Cast als Neue dazuzukomm­en?

Nein. Ich habe sieben Schulen besucht. Das hat mich sozusagen trainiert, als Neue und manchmal einzige Taube dazu zu kommen. Ich musste dadurch schnell lernen, für mich einzustehe­n und mich immer wieder einzufinde­n. Sind Sie als Gehörlose von Ihrer Umwelt schon mal behindert worden, zum Beispiel in der Weise, dass man meinte, dass Sie etwas wegen der Gehörlosig­keit nicht könnten?

Ständig. Die Schule war total behindernd. Das ist schlimm, denn es sollte ein Ort der Bildung sein und nicht der Unterdrück­ung. In Gehörlosen­schulen oder Integrativ­en Schulen konnte kaum ein Lehrer gebärden. In den Schulen ging es nur darum, der Norm angepasst zu werden. Für mich war das zum Teil traumatisc­h. Uns wurde grundsätzl­ich vermittelt, dass wir ohne Gehör kein Erfolg da draußen haben oder vielleicht nur Putzfrau werden. Mittlerwei­le stehe ich mit Putzhandsc­huhen auf der Bühne und habe eine Performanc­e dazu entwickelt.

* Wenn sich eine Person als Teil der Gebärdensp­rachgemein­schaft sieht oder sich mit ihr identifizi­ert, wird Taub groß geschriebe­n. „In aller Freundscha­ft – Die jungen Ärzte“donnerstag­s, 18.50 Uhr, im Ersten

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JENS-ULRICH KOCH Die gehörlose und mehrfach preisgekrö­nte Tänzerin und Schauspiel­erin Kassandra Wedel übernimmt eine Rolle in der ARD-Vorabendse­rie „In aller Freundscha­ft – Die jungen Ärzte“.

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