Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Wir haben uns in seiner Wohnung getroffen, geredet, dann hatten wir Sex.
Martins Stimme klingt aufgewühlt und zugleich erschöpft. Er hat die Pocken auch im Mund. „Es schmerzt wie die Hölle“, sagt er am Telefon. Seit zwei Wochen hat er immer wieder hohes Fieber, sein Körper ist schwach, geschwollen und an Stellen aufgeplatzt, die jeden Toilettengang zur Folter machen. Er möchte seine Geschichte erzählen, von den schmerzlichen zwei Wochen mit den Affenpocken, denn er fühlt sich von den Behörden alleingelassen und medizinisch nicht gut versorgt. „Germany macht keinen guten Job“, sagt er enttäuscht.
Martin ist im Frühling 2021 aus den USA nach Berlin gezogen. Schnell hat der IT-Experte bei einem großen Unternehmen eine Anstellung bekommen. Deshalb möchte der 30-Jährige für diesen Artikel anonym bleiben, denn sein Arbeitgeber soll nichts von seiner Infektion wissen. Er hat Angst vor der Stigmatisierung, vor der auch der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, im Bezug auf Affenpocken gewarnt hat.
Martin gehört zu den Männern, die Sex mit Männern haben, im Fachjargon verkürzt „MSM“genannt, ist diese Gruppe als einzige in Deutschland von den Affenpocken betroffen. Seit Mai sind laut Robert-Koch-Institut 131 Fälle in zehn Bundesländern bekannt.
Um Martins Kritik am deutschen Gesundheitssystem zu verstehen, muss man zurückblicken. Am Sonntagabend, 22. Mai, geht er auf ein Date. Seine Verabredung, etwa 45 Jahre alt, hat er vor einem Jahr auf der Dating-App „Romeo“kennengelernt. „Wir haben uns in seiner Wohnung getroffen, geredet, dann hatten wir Sex“, erzählt er. Beide nehmen Prep, ein Mittel, das verhindert, dass man sich mit HIV ansteckt, sie benutzen kein Kondom.
In den folgenden Tagen hat er noch Sex mit drei weiteren Männern, am Montag, Dienstag und am Donnerstag. Als er am Donnerstagabend nach dem Sex duscht, bemerkt er drei Hautrötungen auf seinem Po. „Die sahen aus wie kleine
Pickel, aber ich dachte, das kommt von der Schokolade, die ich am Vortag gegessen habe.“Doch am Samstagnachmittag, sechs Tage nachdem er mit dem 45-Jährigen Sex hatte, bekommt Martin Fieber, sein Körper schmerzt, die Lymphdrüsen sind geschwollen. „Dann schaute ich die Pickel auf meinem Po an – und sie waren dick.“Martin googelt die Symptome. Er ahnt Schlimmes. Syphilis oder Affenpocken?
Seine Suche nach medizinischer Hilfe beginnt. Er fährt ins nächste Krankenhaus. Eine Ärztin schickt ihn weiter zur Dermatologischen Abteilung der Charité. In der Dermatologie angekommen, soll er in die Notaufnahme, dort sitzt er eine Stunde im öffentlichen Warteraum. Erst dann wird er in ein isoliertes Zimmer geschickt. „Im Nachhinein frage ich mich, warum es so lange gedauert hat“, schließlich sei er ansteckend und nicht der erste Mann mit Affenpocken in Deutschland.
Nach sieben Stunden in der Notaufnahme, Abstrichen und Blutentnahmen wird er mit Schüttelfrost und Fieber entlassen. Zu Hause nimmt er Schmerztabletten, Ibuprofen, Paracetamol. Am Montagmorgen erhält er telefonisch die Affenpocken-Diagnose. Zu diesem
Zeitpunkt zählt er neun Pocken am Po, wenn er sie berührt, spürt er einen kleinen Schmerz. Er hat Fieber, Schüttelfrost, er kann nicht schlafen, schwitzt literweise. Freunde stellen ihm Essen vor die Tür.
Zwei Tage später meldet sich das Gesundheitsamt. Eine Frau klärt ihn über die 21-tägige Quarantäne auf, fragt, wo er sich angesteckt haben könnte. Martin weiß es schon. Er hat bereits seine Kontakte der letzten Woche informiert. Und der 45-Jährige von der „Romeo“-App ist ebenfalls erkrankt, sein ganzes Gesicht ist übersät mit dicken Pusteln. Die Frau vom Amt gibt sich mit der Antwort zufrieden. Weitere Nachfragen hat sie nicht. Martin informiert sie, dass er noch mit drei weiteren Männern Sex hatte. Bis heute ist bei keinem der drei die Krankheit ausgebrochen. Die nächste Woche wird schlimm. „Wenn ich auf die Toilette gehe, fühlt sich das wie
Messerstiche an.“Martin macht sich Sorgen, er leidet auch an Long Covid. Weil er nicht sitzen kann, fährt er mit einem E-Roller ins Krankenhaus. Angekommen, soll er auf einem Parkplatz warten, man hätte keinen Raum für ihn. Ein Arzt in Schutzkleidung gibt ihm Schmerzmittel und Creme. Martin fragt, ob der Arzt ihm Tecovirimat verschreiben könne. Ein Medikament, das kürzlich in der EU zur Behandlung von Affenpocken zugelassen wurde. Martin hat darüber gelesen.
Die Antwort des Arztes ist ernüchternd, leider gebe es von dem Medikament nicht genug Vorräte. Und es werde Patienten mit schwerem Verlauf oder einer Immunschwäche wie HIV vorbehalten. Momentan gebe es in Deutschland nur zehn Dosen Tecovirimat. Nach welchem Behandlungskonzept Affenpocken-Patienten bei der Charité Hilfe erfahren und wie viele Patienten schon mit Tecovirimat behandelt wurden, lässt sich laut Pressestelle nicht so schnell beantworten.
Eine Nachfrage beim RKI und dem Stakob, dem Ständigen Arbeitskreis der Kompetenz- und Behandlungszentren für Krankheiten durch hochpathogene Erreger, bestätigt die geringe Menge des Medikaments
in Deutschland. Man verweist auf den Austausch der Krankenhäuser untereinander mit Medikamenten. Das Bundesge- sundheitsministerium wiederum verweist auf die Stakob. Martin hilft das nicht. 14 Tage nach der Anste- ckung blutet er. Er ruft beim Kran- kenhaus an. Man antwortet ihm, dass man ihn normalerweise bei Analblutungen untersuchen würde, bei Affenpocken nicht.
„Für mich ist es schwer zu glau- ben, dass Deutschland nur zehn Dosen Tecovirimat hat“, sagt Mar- tin. Es ist der 17. Tag nach der Anste- ckung. Es gehe ihm zum ersten Mal wieder besser. „Es ist sehr unwür- dig, die Krankheit so ertragen zu müssen. Es ist eine Infektion, die mich für mein Leben zeichnen kann.“Inzwischen hat er auch Po- cken auf seiner Schulter, sie haben sich geöffnet und sind wund.
Die Ständige Impfkommission empfiehlt Männern, die mit Männern Sex haben, eine AffenpockenImpfung. Auch Martin ist dafür. „Das ist ein schrecklicher Infekt. Wäre ich nicht in dieser Situation, würde ich in die USA fliegen und zu einer Sexual-Health-Klinik fahren und das Medikament bekommen“, ist Martin überzeugt. Deutschland zeigt sich zumindest in seinem Fall schlecht auf die Affenpocken vorbe- reitet.
Mit Blick auf wieder steigende Corona-Fallzahlen und sich verbreitende Omikron-Subtypen warnt das Robert-Koch-Institut (RKI) vor zunehmendem Infektionsdruck im Sommer. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz lag laut RKI-Dashboard am Freitag bei
318,7 (Vortag: 276,9; Vorwoche:
261,3). Die Gesundheitsämter in Deutschland meldeten dem RKI zuletzt 77.878 Corona-Neuinfektionen und 106 Todesfälle innerhalb eines Tages.
Zwar liefert die Inzidenz kein vollständiges Bild der Infektionslage, dennoch mahnte das Institut in seinem aktuellen Wochenbericht, das Infektionsgeschehen könne demnächst wieder anziehen. Erwartet wird demnach, dass sich die Omikron-Subvarianten namens
BA.4 und BA.5 stärker verbreiten, „sodass es auch insgesamt zu einem Anstieg der Infektionszahlen (...) schon im Sommer kommen kann“, schrieben die RKI-Experten in dem Wochenbericht. Saisonale Effekte – die das Virus eigentlich ein Stück weit ausbremsen – könnten die Verbreitung dieser Varianten nicht kompensieren, wenn Verhaltensregeln nicht mehr beachtet werden.
„Das aktuell stärkste Wachstum zeigt der Anteil der Sublinien BA.4 und BA.5“, schrieb das RKI. Die Folge: Bereits in wenigen Wochen könnten diese Erreger die Mehrzahl der Nachweise ausmachen.
BA.5 ist bei Untersuchungen von vorletzter Woche in jeder zehnten Probe gefunden worden. Der Anteil von BA.4 wird mit 2,1 Prozent angegeben, auch dies ungefähr eine Verdopplung zu früheren Werten.
Die gute Nachricht: Auch wenn es nach Berichten aus Portugal Sorgen vor einer womöglich wieder wachsenden Krankheitsschwere gibt, sieht das RKI dafür bisher keine Belege. Die bisherigen Daten ließen nicht darauf schließen, dass
BA.4 oder BA.5 schwerere Krankheitsverläufe verursachten. dpa