Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Ein staatlich organisiertes Verbrechen
DDR-Zwangsausgesiedelte engagieren sich gegen das Vergessen, Verdrängen und Verharmlosen des SED-Unrechts
Brunhilde Gerlach war 13, als ihre Kindheit, die sie bis dahin als idyllisch empfang, ein brutales Ende fand: Im Frühjahr 1952 wurden sie, ihre drei Schwestern, die Mutter und die Großmutter zu nachtschlafender Zeit von bewaffneten Männern aus dem Bett getrommelt, samt ihrem Hausstand binnen zwei Stunden auf zwei Lastwagen verfrachtet und von Wohlmuthausen (Rhön) über Grimmenthal nach Cumbach in der Nähe von Gotha gebracht.
Dort wurden die beiden Frauen und weinenden Kinder im Schulgebäude abgeladen. Wessen sich ihre Mutter, eine Kriegswitwe, die zunächst den eigenen Hof bewirtschaftet und später verpachtet hatte, schuldig gemacht haben sollte, erfuhren Brunhilde Gerlach und ihre Familie nicht: „Meiner Mutter wurde vor der Abfahrt nur ein Schriftstück vorgelesen, dass sie mit uns ausgesiedelt wird. Es gab keine Begründung. Unsere größte Angst war, nach Sibirien zu kommen.“
Als Asoziale, Saboteure und „Elemente“angekündigt
Obwohl das alles 70 Jahre her ist, kann sich Brunhilde Gerlach noch an jedes Detail erinnern und den Schmerz nicht vergessen: Am Samstagnachmittag gab sie als eine von drei Zeitzeuginnen im Thüringer Freilichtmuseum Hohenfelden (Kreis Weimarer Land) Auskunft darüber, wie 1952 und 1961 die Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze abliefen.
So wie Brunhilde Gerlach wurde 1952 auch Rosalinde Mertins als Kind entwurzelt: Die 77-Jährige war sieben Jahre alt, als ihre Familie, die in Bettenhausen bei Meiningen ein Kolonialwarengeschäft und einen modern aufgestellten landwirtschaftlichen Hof hatte, deportiert wurde. „Die Kampfgruppen fuhren mit vier Lkw vor und schleiften meinen Vater zum Gemeindeamt, wo er unterschreiben sollte, dass er den Ort freiwillig verlässt.“
Fix und fertig sei ihr Vater nach Hause zurückgekehrt, wo ihre Mutter noch die Geistesgegenwart besessen habe, „alles einzupacken, was nicht niet- und nagelfest war“. Rosalinde Mertins Familie landete schließlich im Pfarrhof von Sonneborn bei Gotha. Dort wurden ihr eine Küche und ein Zimmer zugewiesen, die Familie musste extrem beengt leben.
Wenigstens hätten sie Nachbarn im Pfarrhof sie freundlich aufgenommen, berichtet Mertins. Keine Selbstverständlichkeit: Denn die Zwangsausgesiedelten wurden an ihren neuen Wohnorten als Schwerverbrecher von der Grenze, als Asoziale, Saboteure, „Elemente“angekündigt, was sie isolierte und vielen von ihnen den Neuanfang in der fremden Umgebung zusätzlich erschwerte.
Neun Jahre nach der zynisch als „Aktion Ungeziefer“bezeichneten Zwangsmaßnahme widerfuhr solches Leid mit der „Aktion Kornblume“auch Marie-Luise Tröbs, heute 71: Sie lebte mit ihren Eltern, zwei jüngeren Brüdern und der Großmutter in Geisa in der Rhön. „Es war idyllisch“, sagt sie – bis auf das Unbehagen, das die Familie jedes Mal überfiel, wenn sie Verwandte in der 500-Meter-Zone vor der Grenze besuchen wollte und am Schlagbaum den Passierschein vorweisen musste. „Das war immer mit Angst verbunden“, so Tröbs.
Am 3. Oktober 1961 habe dann plötzlich ein Räumkommando vorm Haus gestanden: „Die Männer gingen ins Schlafzimmer meiner Eltern, öffneten den Wäscheschrank,
holten einen Bettbezug heraus und warfen einfach alles hinein.“Ohne Rücksicht auf Verluste seien Möbel und Hausrat binnen weniger Stunden auf Lkw verfrachtet worden.
Den Inhalt der Schränke einfach herausgerissen
Marie-Luise Tröbs, damals zehn Jahre alt, wurde mit ihrer Mutter abgeführt und in ein Fahrzeug mit sechs Polizisten gesetzt. Ihre Brüder und ihr Vater verließen, ebenfalls in Begleitung eines bewaffneten Polizisten“, den Ort im eigenen Auto. „Es war herzzerreißend“, schilderte Marie-Luise Tröbs das traumatische Erlebnis. „Wir wussten nicht, ob wir unsere bettlägerige Oma jemals wieder sehen. Und keiner im Ort hat sich getraut, etwas zu sagen. Für mich war das wie eine Art stillschweigende Zustimmung. Damit kam ich lange nicht klar.“
Marie-Luise Tröbs Familie wurde nach Ilmenau gebracht, wo sie wie die meisten Zwangsausgesiedelten weiter von der Staatssicherheit beschattet wurde. Die Erfurterin hat nie vergessen, mit welchem Argwohn
die neue Umgebung ihrer Familie zumeist begegnete, dass man sie für Verbrecher hielt. „Aber es gab zum Glück auch aufrechte Menschen, die uns halfen.“Hier, so Moderatorin Juliane Stückrad von der Volkskundlichen Beratungs- und Dokumentationsstelle für Thüringen, sei die staatliche Willkür schließlich an ihre Grenzen geraten.
An der Deportation und den unwürdigen Wohnverhältnissen, mit denen die Familien in der Fremde zurechtkommen mussten, sind die drei Frauen jedoch nicht zerbrochen: Auch wenn das erlittene Leid immer gegenwärtig ist, haben sie sich im Leben behauptet, viel gearbeitet, eigene Familien gegründet. „Dahinter steckte auch so eine Art Trotz“, sagte Brunhilde Gerlach. „Wir wollten es diesem Staat zeigen.“
Doch als sich mit der friedlichen Revolution in der DDR die Möglichkeit bot, über das erlittene und bis dahin verschwiegene Unrecht zu sprechen und Nachforschungen anzustellen, griffen die Zeitzeuginnen beherzt zu. Sie engagieren sich seither gegen das Vergessen, Verdrängen und Verharmlosen des SED-Unrechts, sprechen mit Schülern und anderen Interessierten und setzen sich für eine fundierte Forschung und Aufarbeitung ein. Noch 1990 gründete Marie-Luise Tröbs den Bund der Zwangsausgesiedelten der DDR.
Die 71-Jährige weiß heute, dass ihre Eltern unschuldig waren; ein ehemaliger Volkspolizist habe später zugegeben, Anschuldigungen nicht geprüft zu haben. Und auch Brunhilde Gerlach und Rosalinde Mertins wissen inzwischen, dass es keinen Grund gab, der die Zwangsaussiedlung auch nur ansatzweise gerechtfertigt hätte.
Die Zwangsausgesiedelten von
1952 und 1961 -- insgesamt etwa
12.000 Menschen – sind zwar rehabilitiert, bis heute aber nicht für den Verlust von Heimat, für Willkür und Demütigung entschädigt worden. Der Kampf der Betroffenen geht deshalb weiter: Um die Erinnerung an ein staatlich organisiertes Verbrechen wach zu halten und um die Gerechtigkeitslücken im Entschädigungssystem zu schließen.