Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Mehr Abschiebungen in die Türkei
Experten sehen wachsende Repressionen – doch deutsche Behörden schicken Menschen zurück
Die Polizisten rennen durch die engen Gassen von Istanbul. Menschen mit Regenbogenflagge stellen sich ihnen in den Weg, werden weggeschubst, manche offenbar mitgenommen. Demonstrierende treten in der türkischen Metropole für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transgender ein – und müssen Festnahmen fürchten.
Mehr als 370 Menschen sind am Wochenende nach Angaben von Hilfsorganisationen bei Protesten von der türkischen Polizei in Gewahrsam genommen worden, darunter offenbar auch ein Fotojournalist der Nachrichtenagentur AFP. Der Protestmarsch war im Vorfeld durch die Istanbuler Stadtregierung verboten worden. Offiziell aus „Sicherheitsgründen“. Doch Fachleute beobachten seit Jahren eine wachsende Repression gegen Queer-Aktivisten, Schwule und Lesben in dem Land.
Es ist ein Klima der Repression, über das nicht nur Queer-Aktivisten erschüttert sind. Menschenrechtsorganisationen beklagen vor allem seit dem Putschversuch gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan willkürliche Verhaftungen. Im Zuge eines „Anti-Terror-Kampfes“gehen die Behörden immer wieder gegen prokurdische
Parteien und Medien vor. Und unlängst kritisierte Außenministerin Annalena Baerbock die Verurteilung des Kulturförderers Osman Kavala scharf.
Doch Deutschland schiebt abgelehnte Asylsuchende immer wieder in die Türkei ab – auch Kurden. Menschenrechtsaktivisten und Asylanwälte sowie die politische Linke kritisieren das seit Jahren. Doch die Zahl der Abschiebungen steigt sogar. „Im Zeitraum Januar bis Mai 2022 wurden insgesamt 204 Personen in die Türkei abgeschoben“, heißt es in einer Antwort der Bundesregierung auf Anfrage der Linke-Fraktion.
Setzt sich diese Abschiebepraxis fort, würde Deutschland bis Ende 2022 knapp 500 Personen zurück in die Türkei schicken. Im vergangenen Jahr waren es 361 abgeschobene Menschen, 2020 insgesamt 318. vor allem aufgrund von Corona-Lockdowns und Reisebeschränkungen waren die Rückführungen zurückgegangen. Vor der Pandemie lag die Zahl der Abschiebungen bei 429 im Jahr 2019.
Für die Abschiebungen sind die Bundesländer zuständig. Wie viele der zurückgeführten Menschen kurdischer Abstammung sind, wird nicht erfasst. Doch die Zahl dürfte hoch sein.
In Deutschland entscheidet das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (Bamf) darüber, ob ein Mensch Schutz bekommt. 2021 beantragten laut Bundesregierung 6752 Personen aus der Türkei Asyl in Deutschland. Die Mehrheit, fast 4000, waren demnach kurdischer Abstammung. Doch nur eine Minderheit der kurdischen Schutzsuchenden bekommt einen Aufenthaltstitel zugesprochen: Die Gesamtschutzquote liegt bei gut 13 Prozent. Bei den nicht kurdischen Türken ist die Gesamtschutzquote 78 Prozent.
Nun prüft das Bundesamt nicht nach „Abstammung“, sondern nach individueller Verfolgung und der Bedrohungslage einer Person. Dabei kann die Volkszugehörigkeit eines Menschen jedoch relevant sein. Und: Auch die Sicherheitslage in einem Herkunftsland spielt in Bamf-Leitsätzen eine gewichtige Rolle, sie sind nicht öffentlich.
Die Bundesregierung schreibt selbst, sie sehe „die Lage von Menschenrechten und die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, insbesondere mit Blick auf Oppositionelle und regierungskritische Stimmen, weiterhin mit großer Sorge“. Insbesondere der Druck auf linke kurdische Aktivisten habe zugenommen. Zugleich halten die deutschen Behörden fest: „Hinweise zu systematischer Folter oder Misshandlungen liegen der Bundesregierung nicht vor.“Für „allgemeine Kriminelle“sieht die Bundesregierung zudem rechtsstaatliche und faire Verfahren nicht gefährdet.
Lehnt das Bundesamt einen Asylantragsteller ab, hat das Bundesland zudem noch immer die Möglichkeit, eine Abschiebung abzulehnen und eine „Duldung“auszuteilen, etwa aus humanitären Gründen oder weil Ausweisdokumente der Person fehlen. Tausende Kurden aus der Türkei klagen vor deutschen Gerichten gegen die Asylablehnung. Einige haben Erfolg, die meisten scheitern. Und: Mehr als 10.000 Gerichtsverfahren waren 2021 noch anhängig.
Die Linke-Fraktion im Bundestag übt scharfe Kritik an der Abschiebepraxis der Bundesländer: „Dass der Anstieg bei den Abschiebungen in die Türkei sich weiter fortsetzt, ist höchst besorgniserregend“, sagte Linke-Politikerin Clara Bünger unserer Redaktion. „Wir wissen aus der Praxis, dass von diesen Abschiebungen immer wieder Menschen betroffen sind, denen in der Türkei willkürliche Haft, Folter und andere gravierende Menschenrechtsverletzungen drohen.“Bünger fordert einen Abschiebestopp in die Türkei. „Bund und Länder dürfen sich nicht länger zu Erfüllungsgehilfen von Erdogans Unterdrückungspolitik machen.“