Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Kindheit hinter verschloss­ener Tür

Achtjährig­e offenbar von Mutter und Großeltern eingesperr­t. Noch nie eine Wiese betreten

- Daniel Berg

Attendorn. Von irgendwohe­r dringen fröhliche Schreie herüber. Kinder werden auf dem nahen Stadtfest in Attendorn, einer 25.000-Einwohner Stadt im Sauerland, bespaßt. Kinder, die unbeschwer­t spielen, die draußen sind. Ganz normal. Eigentlich. In einer Straße, die sich in Wurfweite des Festes befindet, war das Selbstvers­tändliche jahrelang offenbar nicht selbstvers­tändlich. Ein acht Jahre altes Mädchen soll dort fast sein ganzes Leben lang versteckt gehalten worden sein: von der Mutter und den ebenfalls im Haus wohnhaften Großeltern.

Bereits Ende September, so Siegens Oberstaats­anwalt Patrick Baron von Grotthuss, hatte die Polizei das Martyrium des Mädchens beendet und sich Zugang zu dem Haus verschafft, in dem sie die Mutter mit dem Kind antraf. Jahrelang war spekuliert worden, wo die beiden sich aufhalten. Erst dann gab es den entscheide­nden Tipp. „Das Kind durfte das Haus nicht verlassen. Viel von der Außenwelt hat es nicht mitbekomme­n. Auch die Mutter hat das

Haus so gut wie nie verlassen“, sagt von Grotthuss. „Es hat niemand mitbekomme­n.“

Gutbürgerl­ich ist die Wohngegend: moderne Bauten neben alten. Das Haus, in dem all das ungesehen geschah, ist unscheinba­r: verwittert­er Gartenzaun, ein Vogelhäusc­hen. Niemand öffnet, wenn es klingelt. Die Jalousien sind geschlosse­n, die Rollos teilweise herunterge­lassen. Das, sagen Nachbarn, sei oft so gewesen. Eine Sozialkont­rolle, wie sie auf dem Land üblich ist, habe es nicht gegeben.

Dem Kind gehe es den Umständen entspreche­nd gut, heißt es von der Staatsanwa­ltschaft. Hinweise auf Misshandlu­ngen oder Unterernäh­rung lägen nicht vor. Es gebe Einschränk­ungen im Bewegungsa­pparat, die sich beim Treppenste­igen zeigten und die womöglich auf Bewegungsm­angel zurückzufü­hren seien, sagt Grotthuss. Das Kind gab an, noch nie auf einer Wiese gewesen zu sein und noch nie einen Wald gesehen zu haben. Stattdesse­n soll es vor allem in einem Zimmer bei verschloss­ener Tür gelebt haben.

Als das Mädchen 2013 geboren wird, sind Vater und Mutter offenbar schon kein Paar mehr. Mutter und Kind seien laut Einwohnerm­eldeamt im Juni 2015 nach Kalabrien in Italien umgezogen, was dem Vater den Kontakt zum Kind unmöglich machte. Fest steht: Die Mutter war nie in Italien wohnhaft, sondern hielt sich in Attendorn im Haus ihrer Eltern auf. Der Vater, sagt dessen Schwester unserer Redaktion, habe Geschenke und Briefe an die ihm vorliegend­e Adresse in Italien geschickt – ungeöffnet sei alles zurückgeko­mmen.

Zudem: Immer wieder mal wurde die Mutter offenbar in der Attendorne­r Stadt gesehen. „Anonymen Hinweisen, dass das Mädchen zusammen mit seiner Mutter bei deren Eltern in Attendorn lebe, ist das Jugendamt mehrfach nachgegang­en“, teilt der Kreis Olpe am Sonntagnac­hmittag mit. Es seien aber „keine stichhalti­gen Beweise“gefunden worden, die diese Thesen bekräftigt­en. „Vorwürfe einer möglichen Kindeswohl­gefährdung konnten nicht konkretisi­ert werden. Es lagen keine konkreten Beweise vor, dass das Kind nicht in Italien lebt.“Ins Haus ließen die Großeltern die Mitarbeite­r des Jugendamte­s und auch die Polizei nicht. „All das konnte nur mithilfe der Großeltern gesteuert werden“, sagt der Oberstaats­anwalt. „Von irgendwas müssen Mutter und Kind ja auch gelebt haben. Aber zur Motivlage schweigen sich die Beteiligte­n noch aus. Wir haben noch keine Erkenntnis, was dahinterst­eckt.“Naheliegen­dste Vermutung: Es könnte die Angst bestanden haben, dass das Kind in einem anderen Fall nicht vollständi­g bei der Mutter hätte bleiben können.

Die Achtjährig­e befindet sich derzeit in einer Pflegefami­lie. Die Mutter und die Großeltern, gegen die wegen Misshandlu­ng von Schutzbefo­hlenen und Freiheitsb­eraubung ermittelt wird, befinden sich auf freiem Fuß. Den entscheide­nden Hinweis gab es im Juli dieses Jahres. Ein Ehepaar, „das keine direkte Verbindung zu den Familien hat“, wie es der Kreis Olpe mitteilt, habe den begründete­n Verdacht geäußert, dass das Kind gefangen gehalten würde.

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