Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Die schwierige Jagd auf Kriegsverbrecher
Die Ukraine sammelt Hinweise zu Tötungen und Folter. Doch die Aufarbeitung ist mühsam. Es fehlt an Zeit – und Vertrauen
Kiew. Das Bild des jungen Mannes ist auf eine Platte aus Metall gedruckt. Kurze Haare, ein runder Kopf, eine Brille mit dünnem Rand. Wolodymyr Zherebnyj, 28 Jahre alt, Lehrer aus Lwiw. Daneben ein weiteres Bild: Michal Zhyznewskyj, 25 Jahre alt, Journalist. So geht es weiter. Foto an Foto. Umrahmt von Blumen und Armbändern in Gelb und Blau, den Nationalfarben der Ukraine. Es sind Dutzende.
Oleksandra Romantsowa erzählt ihre Geschichte an diesem Ort, dem Maidan, dem berühmten Unabhängigkeitsplatz inmitten der Kiewer Innenstadt. Tafeln erinnern an das Jahr 2014, als Zehntausende Menschen gegen die damals noch prorussische Regierung auf die Straße gingen. Auch Romantsowa protestierte. Mehr als 100 Menschen wie der junge Lehrer und der Journalist starben hier auf dem Maidan, durch die Schüsse von Scharfschützen aus den Reihen regierungstreuer Sicherheitsleute.
Romantsowa sagt, dass der Krieg gegen Putin und der Kampf für eine freie Ukraine nicht erst mit dem russischen Angriff im Februar 2022 begonnen hat. Sondern bereits 2014, hier. „Der Maidan ist ein Mutmacher. Ein Zeichen, dass wir siegen können“, sagt sie. Trotz des Blutes. Trotz der vielen Toten. Damals – und heute noch viel mehr.
Butscha, Irpin, Borodjanka, Isjum, Kramatorsk – es sind Namen von ukrainischen Orten, die nun für schwerste Verbrechen stehen. Erschossene Zivilisten, Massaker, Folter, Entführungen, Vergewaltigungen. Seit dem Angriffskrieg sollen russische Soldaten Kriegsverbrechen begangen haben. Nicht einzelne Verdachtsfälle sind bekannt, die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft will Informationen zu mehr als 40.000 Vorfällen gesammelt haben. Es steht der Vorwurf im Raum: Russland setzt Gewalt gegen Zivilisten als militärische Taktik ein.
Mehr als 20.000 Fälle haben auch Oleksandra Romantsowa und ihr Team dokumentiert. Romantsowa ist die Geschäftsführerin des Centers for Civil Liberties (CCL) in Kiew – und sammelt Beweise für Putins mutmaßliche Kriegsverbrechen in der Ukraine. Gerade ist das Team mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.
Die russischen Truppen waren in den vergangenen Monaten vielerorts auf dem Rückzug. Doch in mehreren befreiten Gebieten entdecken die ukrainischen Soldaten
Massengräber in Waldstücken. Anwohner erzählen, wie sie in Kellern gefangen gehalten, wie Zivilisten erschossen und Frauen vergewaltigt wurden. Wenn die ukrainischen Soldaten weiterziehen, untersuchen Forensiker, Staatsanwälte und Polizisten Leichen und Tatorte.
Romantsowa und ihr Team unterstützen die Sicherheitsbehörden. In ihren Datenbanken sind vor allem Fotos, Augenzeugenberichte, Kameravideos und Handyfilmchen gespeichert. Der Server ist an einem geheimen Ort. Fünf Mitarbeiter recherchieren zu Kriegsverbrechen, 20 Freiwillige helfen ihnen. „Unser Ziel ist das gleiche, das auch der Staat hat: Wir wollen Gerechtigkeit und Entschädigung für die Opfer dieses Krieges“, sagt Roman Nekoliak vom CCL.
Ermittlungen dauern oft Jahre, scheitern immer wieder
Doch dieser Weg zur Gerechtigkeit ist schwer. Zwar sind seit dem 20. Jahrhundert um ein Vielfaches mehr Menschen weltweit durch Kriegsverbrechen getötet worden als durch zivile Tötungsdelikte. Doch nur wenige Kriegsverbrecher standen vor Gericht. Ermittlungen dauern oft Jahre, scheitern immer wieder – obwohl die internationale
Gemeinschaft noch nie so viele Institutionen für den Kampf gegen diese Völkerstraftaten ins Leben gerufen hat wie heute: UN-Sondertribunale, den Internationalen Strafgerichtshof und in Deutschland seit 2002 das Völkerstrafgesetzbuch. Wird der Kampf gegen Putins Kriegsverbrechen in der Ukraine gelingen?
Andrij Kostin hat in einen Konferenzraum geladen. Er ist Generalstaatsanwalt der Ukraine. An diesem Tag empfängt Kostin den deutschen Justizminister Marco Buschmann (FDP). Kostin bedankt sich für die Hilfe. Auch der Generalbundesanwalt in Karlsruhe sammelt derzeit Hinweise zu Straftaten von russischen Soldaten, etwa wenn ukrainische Geflüchtete in
Deutschland Aussagen machen. Buschmann sagt: „Nur wenn die Staatengemeinschaft Russland in die Schranken weist, haben Freiheit und Sicherheit in der Welt eine Zukunft.“Das sind starke Sätze. Doch die juristische Praxis ist mühsam. In Deutschland haben bisher gerade einmal ein paar Hundert Menschen Aussagen bei den Behörden abgegeben – bei mehr als einer Million registrierten ukrainischen Flüchtlingen. Wer mit ranghohen Vertretern der ukrainischen Justiz und Regierung spricht, hört ähnliche Sorgen: Zu wenige Menschen trauen sich, Zeuge für Folter, Vergewaltigungen oder Tötungen durch Soldaten zu sein. Noch etwas erschwert die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen. Die Ermittler müssen schnell sein.
Oftmals sind es zwei oder drei Wochen nach der Tat, in denen die Menschen von Gewalt oder Folter erzählen. Danach schiebt sich die Traumatisierung vor die Erlebnisse. Die Betroffenen wollen vergessen, sie schweigen lieber. So berichtet es etwa die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, Olha Stefanischyna.
Doch Schnelligkeit ist mitten im Krieg eine Gefahr. Bevor Staatsanwälte oder Rechercheure in die Orte hinter der Front gelangen, müssen Minen geräumt, der Luftraum gegen Raketenbeschuss halbwegs gesichert, die russischen Truppen weit genug zurückgedrängt worden sein.
Laut der Vizepremierin hat die Ukraine deshalb an bald fünf Orten ein „Survival Center“eingerichtet. Es sind provisorische Anlaufstellen für Menschen aus den befreiten Gebieten. Anwohner sollen dort Hilfe bekommen, finanziell, aber auch psychologisch. Und: Freiwillig sollen sie dort Aussagen zu möglichen Kriegsverbrechen machen können.
Die Nobelpreis-Gewinner um Romantsowa schulen derzeit Lokaljournalisten. Sie sollen auch dokumentieren, was journalistisch vielleicht wenig interessant ist, aber den Juristen in Kriegsverbrecherprozessen hilft. Genau diese Dokumentation schätzen Fachleute als Schlüssel ein, um am Ende Täter vor Gericht bringen zu können. Denn klar ist: Es wird dauern, vielleicht zehn Jahre oder mehr, bis ein Prozess gegen ranghohe Militärs oder gar die russische Führung denkbar ist. Alles, was nicht heute sauber dokumentiert wird, ist nach Jahren des Krieges für die Beweisaufnahme verloren.
Ende November sollen in Berlin die G7-Justizminister tagen. Eingeladen ist auch der ukrainische Justizminister und Generalstaatsanwalt Kostin. Gemeinsam wollen sie auch darüber reden, ob durch Appelle in den sozialen Netzwerken mehr Ukrainer auf der Flucht bereit sind, Vertrauen zu den örtlichen Polizeibehörden zu fassen.
Auf dem Maidan, dem großen Platz in Kiew, hat die Ukraine den Demonstranten von 2014 Denkmäler und Tafeln errichtet. „Es ist nicht nur ein Ort, es ist ein Gefühl“, sagt die junge Romantsowa. Ein Gefühl des Sieges, aber auch der Trauer.
Am Rand des Maidans, an der vierspurigen Hauptstraße, stecken seit einigen Monaten kleine Fahnen in einem Rasenstück. Jede, so sagen sie hier, steht für einen Getöteten im russischen Angriffskrieg. Es ist mittlerweile ein Meer aus Tausenden Fähnchen.