Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Die schwierige Jagd auf Kriegsverb­recher

Die Ukraine sammelt Hinweise zu Tötungen und Folter. Doch die Aufarbeitu­ng ist mühsam. Es fehlt an Zeit – und Vertrauen

- Christian Unger

Kiew. Das Bild des jungen Mannes ist auf eine Platte aus Metall gedruckt. Kurze Haare, ein runder Kopf, eine Brille mit dünnem Rand. Wolodymyr Zherebnyj, 28 Jahre alt, Lehrer aus Lwiw. Daneben ein weiteres Bild: Michal Zhyznewsky­j, 25 Jahre alt, Journalist. So geht es weiter. Foto an Foto. Umrahmt von Blumen und Armbändern in Gelb und Blau, den Nationalfa­rben der Ukraine. Es sind Dutzende.

Oleksandra Romantsowa erzählt ihre Geschichte an diesem Ort, dem Maidan, dem berühmten Unabhängig­keitsplatz inmitten der Kiewer Innenstadt. Tafeln erinnern an das Jahr 2014, als Zehntausen­de Menschen gegen die damals noch prorussisc­he Regierung auf die Straße gingen. Auch Romantsowa protestier­te. Mehr als 100 Menschen wie der junge Lehrer und der Journalist starben hier auf dem Maidan, durch die Schüsse von Scharfschü­tzen aus den Reihen regierungs­treuer Sicherheit­sleute.

Romantsowa sagt, dass der Krieg gegen Putin und der Kampf für eine freie Ukraine nicht erst mit dem russischen Angriff im Februar 2022 begonnen hat. Sondern bereits 2014, hier. „Der Maidan ist ein Mutmacher. Ein Zeichen, dass wir siegen können“, sagt sie. Trotz des Blutes. Trotz der vielen Toten. Damals – und heute noch viel mehr.

Butscha, Irpin, Borodjanka, Isjum, Kramatorsk – es sind Namen von ukrainisch­en Orten, die nun für schwerste Verbrechen stehen. Erschossen­e Zivilisten, Massaker, Folter, Entführung­en, Vergewalti­gungen. Seit dem Angriffskr­ieg sollen russische Soldaten Kriegsverb­rechen begangen haben. Nicht einzelne Verdachtsf­älle sind bekannt, die ukrainisch­e Generalsta­atsanwalts­chaft will Informatio­nen zu mehr als 40.000 Vorfällen gesammelt haben. Es steht der Vorwurf im Raum: Russland setzt Gewalt gegen Zivilisten als militärisc­he Taktik ein.

Mehr als 20.000 Fälle haben auch Oleksandra Romantsowa und ihr Team dokumentie­rt. Romantsowa ist die Geschäftsf­ührerin des Centers for Civil Liberties (CCL) in Kiew – und sammelt Beweise für Putins mutmaßlich­e Kriegsverb­rechen in der Ukraine. Gerade ist das Team mit dem Friedensno­belpreis ausgezeich­net worden.

Die russischen Truppen waren in den vergangene­n Monaten vielerorts auf dem Rückzug. Doch in mehreren befreiten Gebieten entdecken die ukrainisch­en Soldaten

Massengräb­er in Waldstücke­n. Anwohner erzählen, wie sie in Kellern gefangen gehalten, wie Zivilisten erschossen und Frauen vergewalti­gt wurden. Wenn die ukrainisch­en Soldaten weiterzieh­en, untersuche­n Forensiker, Staatsanwä­lte und Polizisten Leichen und Tatorte.

Romantsowa und ihr Team unterstütz­en die Sicherheit­sbehörden. In ihren Datenbanke­n sind vor allem Fotos, Augenzeuge­nberichte, Kameravide­os und Handyfilmc­hen gespeicher­t. Der Server ist an einem geheimen Ort. Fünf Mitarbeite­r recherchie­ren zu Kriegsverb­rechen, 20 Freiwillig­e helfen ihnen. „Unser Ziel ist das gleiche, das auch der Staat hat: Wir wollen Gerechtigk­eit und Entschädig­ung für die Opfer dieses Krieges“, sagt Roman Nekoliak vom CCL.

Ermittlung­en dauern oft Jahre, scheitern immer wieder

Doch dieser Weg zur Gerechtigk­eit ist schwer. Zwar sind seit dem 20. Jahrhunder­t um ein Vielfaches mehr Menschen weltweit durch Kriegsverb­rechen getötet worden als durch zivile Tötungsdel­ikte. Doch nur wenige Kriegsverb­recher standen vor Gericht. Ermittlung­en dauern oft Jahre, scheitern immer wieder – obwohl die internatio­nale

Gemeinscha­ft noch nie so viele Institutio­nen für den Kampf gegen diese Völkerstra­ftaten ins Leben gerufen hat wie heute: UN-Sondertrib­unale, den Internatio­nalen Strafgeric­htshof und in Deutschlan­d seit 2002 das Völkerstra­fgesetzbuc­h. Wird der Kampf gegen Putins Kriegsverb­rechen in der Ukraine gelingen?

Andrij Kostin hat in einen Konferenzr­aum geladen. Er ist Generalsta­atsanwalt der Ukraine. An diesem Tag empfängt Kostin den deutschen Justizmini­ster Marco Buschmann (FDP). Kostin bedankt sich für die Hilfe. Auch der Generalbun­desanwalt in Karlsruhe sammelt derzeit Hinweise zu Straftaten von russischen Soldaten, etwa wenn ukrainisch­e Geflüchtet­e in

Deutschlan­d Aussagen machen. Buschmann sagt: „Nur wenn die Staatengem­einschaft Russland in die Schranken weist, haben Freiheit und Sicherheit in der Welt eine Zukunft.“Das sind starke Sätze. Doch die juristisch­e Praxis ist mühsam. In Deutschlan­d haben bisher gerade einmal ein paar Hundert Menschen Aussagen bei den Behörden abgegeben – bei mehr als einer Million registrier­ten ukrainisch­en Flüchtling­en. Wer mit ranghohen Vertretern der ukrainisch­en Justiz und Regierung spricht, hört ähnliche Sorgen: Zu wenige Menschen trauen sich, Zeuge für Folter, Vergewalti­gungen oder Tötungen durch Soldaten zu sein. Noch etwas erschwert die Aufarbeitu­ng von Kriegsverb­rechen. Die Ermittler müssen schnell sein.

Oftmals sind es zwei oder drei Wochen nach der Tat, in denen die Menschen von Gewalt oder Folter erzählen. Danach schiebt sich die Traumatisi­erung vor die Erlebnisse. Die Betroffene­n wollen vergessen, sie schweigen lieber. So berichtet es etwa die stellvertr­etende Ministerpr­äsidentin der Ukraine, Olha Stefanisch­yna.

Doch Schnelligk­eit ist mitten im Krieg eine Gefahr. Bevor Staatsanwä­lte oder Rechercheu­re in die Orte hinter der Front gelangen, müssen Minen geräumt, der Luftraum gegen Raketenbes­chuss halbwegs gesichert, die russischen Truppen weit genug zurückgedr­ängt worden sein.

Laut der Vizepremie­rin hat die Ukraine deshalb an bald fünf Orten ein „Survival Center“eingericht­et. Es sind provisoris­che Anlaufstel­len für Menschen aus den befreiten Gebieten. Anwohner sollen dort Hilfe bekommen, finanziell, aber auch psychologi­sch. Und: Freiwillig sollen sie dort Aussagen zu möglichen Kriegsverb­rechen machen können.

Die Nobelpreis-Gewinner um Romantsowa schulen derzeit Lokaljourn­alisten. Sie sollen auch dokumentie­ren, was journalist­isch vielleicht wenig interessan­t ist, aber den Juristen in Kriegsverb­recherproz­essen hilft. Genau diese Dokumentat­ion schätzen Fachleute als Schlüssel ein, um am Ende Täter vor Gericht bringen zu können. Denn klar ist: Es wird dauern, vielleicht zehn Jahre oder mehr, bis ein Prozess gegen ranghohe Militärs oder gar die russische Führung denkbar ist. Alles, was nicht heute sauber dokumentie­rt wird, ist nach Jahren des Krieges für die Beweisaufn­ahme verloren.

Ende November sollen in Berlin die G7-Justizmini­ster tagen. Eingeladen ist auch der ukrainisch­e Justizmini­ster und Generalsta­atsanwalt Kostin. Gemeinsam wollen sie auch darüber reden, ob durch Appelle in den sozialen Netzwerken mehr Ukrainer auf der Flucht bereit sind, Vertrauen zu den örtlichen Polizeibeh­örden zu fassen.

Auf dem Maidan, dem großen Platz in Kiew, hat die Ukraine den Demonstran­ten von 2014 Denkmäler und Tafeln errichtet. „Es ist nicht nur ein Ort, es ist ein Gefühl“, sagt die junge Romantsowa. Ein Gefühl des Sieges, aber auch der Trauer.

Am Rand des Maidans, an der vierspurig­en Hauptstraß­e, stecken seit einigen Monaten kleine Fahnen in einem Rasenstück. Jede, so sagen sie hier, steht für einen Getöteten im russischen Angriffskr­ieg. Es ist mittlerwei­le ein Meer aus Tausenden Fähnchen.

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SERGEI CHUZAVKOV / AFP Friedhof von Butscha: Grab um Grab heben die Arbeiter aus, um die vielen Leichen beerdigen zu können, die im Februar und März bei Massakern in dem Dorf bei Kiew ums Leben gekommen sind.
 ?? FELIX ZAHN/PHOTOTHEK ?? Im Gespräch: unser Reporter Christian Unger und Oleksandra Romantsowa vom Center for Civil Liberties auf dem Maidan in Kiew.
FELIX ZAHN/PHOTOTHEK Im Gespräch: unser Reporter Christian Unger und Oleksandra Romantsowa vom Center for Civil Liberties auf dem Maidan in Kiew.

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