Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Der Schicksalstag
Gastbeitrag zur Geschichte des denkwürdigen 9. November seit 1848
Besondere Termine haben in meinem Kopf ihre eigene Farbe. Der 9. November war für mich früher ein düsteres Datum. Ein bisschen aufgehellt durch die Novemberrevolution 1918, dazu etwas Giftgrün vom offiziellen „Tag des Chemiearbeiters“am zweiten Sonntag des Novembers, wenn dieser auf den neunten fiel, schmutziges Braun von Hitlers Putschversuch 1923 und böses Schwarz von der Reichspogromnacht 1938. Jedes Jahr fallen an diesem Tag also Feier- und Gedenkstunden zusammen. Zuletzt kam 1989 mit der Mauerüberwindung hinzu.
Schwarz-Rot-Gold geht auf die Zeit von Robert Blum zurück
Das Datum gilt als Schicksalstag in der deutschen Geschichte, denn es markiert epochale Wendepunkte. Zunächst kennzeichnete der Tag das Scheitern der demokratischen Märzrevolution in deutschen Landen anhand eines persönlichen Schicksals: Am 9. November 1848 wurde der fast 41-jährige Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung Robert Blum am Vorabend seines Geburtstages standrechtlich hingerichtet. Er starb als Kommandeur einer revolutionären Kompanie in Wien. Die deutsche Demokratiegeschichte wird biografisch gut nachvollziehbar an seiner Entwicklung zum Demokraten und schließlich der Radikalisierung zum Revolutionär. Drei Tage nach Blums Tod, am 12. November 1848, verabschiedete die Nationalversammlung ein Reichsgesetz zur Einführung einer deutschen Kriegsund Handelsflagge in den offiziellen Bundesfarben Schwarz-RotGold.
Der 9. November 1918 – 70 Jahre später – ist kein allzu strahlender Festtag im kollektiven Gedächtnis geblieben. Sebastian Haffner resümiert in einem aufschlussreichen Vergleich: „Es ist für die gesamte weitere Geschichte von verhängnisvoller Bedeutung gewesen, dass der Kriegsausbruch, trotz allem fürchterlichen Unglück, das ihm folgte, für fast alle mit ein paar unvergesslichen Tagen größter Erhebung und gesteigerten Lebens verbunden geblieben ist, während an die Revolution von 1918, die doch schließlich Frieden und Freiheit brachte, eigentlich fast alle Deutschen nur trübe Erinnerungen haben.“
Haffner folgert: „Die Republikaner spürten es später selbst: sie haben nie so recht an den 9. November
erinnert sein wollen, und haben ihn nie öffentlich gefeiert. [... Es] ist seltsamerweise kein festliches Nachgefühl mit dem Datum verbunden: vielmehr Missmut, Niederlage, Angst, sinnlose Schießerei, Konfusion, ja, und schlechtes Wetter.“
Neuerdings versucht das „Haus der Weimarer Republik – Forum für Demokratie“am Weimarer Theaterplatz mit Ausstellung und Veranstaltungen dem besonderen Tag mehr gerecht zu werden. Dieser 9. November ist in ein Rot getaucht, das folgerichtig im Schwarz-RotGold aufgehen sollte.
Eine dunkelbraune Zeit, die den Weg in den Abgrund vorzeichnet
1923 erschütterte die Hyperinflation das Land. Der Wert der Reichsmark sank ins Bodenlose. Sozial Schwache verzweifelten und Spekulanten machten märchenhafte Gewinne, weil sich auch ihre Schulden auflösten. Hatte sich Adolf Hitler anfangs lediglich als maßgebender „Trommler“der NSDAP verstanden,
stellte er die Partei bald auf sein Führerprinzip ein. War jetzt nicht der richtige Augenblick für einen Marsch auf Berlin und die Gelegenheit, mithilfe nützlicher Konservativer die Macht mit einem Handstreich an sich zu reißen?
Die NSDAP, der in diesen Krisenmonaten über 35.000 neue Mitglieder zuströmten, fühlte sich stark genug. So dachte auch der an Selbstüberschätzung kaum zu übertreffende General Erich Ludendorff. Er war die Zentralfigur der Rechten und einer der Erfinder der Dolchstoßlegende seiner angeblich im Felde unbesiegten Armee. Der 9. November 1923 war ein dunkelbrauner Tag, dem noch viele folgen sollten.
Im ganzen Land wurden im November 1938 mehrere hundert Synagogen in Brand gesetzt, mindestens 8000 jüdische Geschäfte zerstört sowie zahllose Wohnungen verwüstet. Zwischen 90 und 100 Juden wurden erschlagen, niedergestochen oder zu Tode geprügelt. In den Tagen darauf wurden insgesamt etwa 30.000 jüdische Männer verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Schlussendlich akzeptierte die Bevölkerungsmehrheit seit der sogenannten „Kristallnacht“Gewalt und Mord an ihren jüdischen Nachbarn und schaute weg. Die Pogromnacht war der Wendepunkt zu offener Gewalt und bewies den Nationalsozialisten, dass auch künftige Verbrechen gegen die Menschlichkeit weitgehend widerstandslos hingenommen werden würden. Ein sehr schwarzer deutscher Tag.
Menschen winkten an den Bahndämmen in Ost und West
Am Novemberdonnerstag 1989 war keine Zeit für die Vergangenheit. Die größte Protestdemonstration der DDR auf dem Berliner Alexanderplatz lag gerade erst fünf Tage zurück. Auch in der Bezirksstadt Erfurt gab es viel zu tun. Der Smog stank zum Himmel. Vormittags beschloss die evangelische Pfarrerschaft, von der Oberbürgermeisterin die sofortige Beseitigung der vielen qualmenden Müllcontainer in Erfurt einzufordern. Nachmittags war zum dritten Mal DonnerstagsDemo in der Innenstadt angesagt: 17 Uhr Friedensgebete in vier Kirchen, dann großer Umzug durch die Stadt, schließlich Kundgebung auf dem Domplatz. Diesmal hatte ich die Rednerliste zu moderieren.
Gegen 19.30 Uhr stürzte eine junge Frau herzu. Sie hatte beim Domküster Nachrichten gehört. „Die Mauer geht auf, die Mauer geht auf!“Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie hockte sich hin und schluchzte: „Jetzt ist alles aus!“
Als wir am Samstagmorgen – also zwei Tage danach – nach Fulda fuhren, winkten Menschen an den Bahndämmen in Ost und West. Bald leuchtete es überall SchwarzRot-Gold.
Seitdem hat der 9. November in meinem Kopf bunte Farben. Was man selbst erlebt hat, wirkt am stärksten. Aber die dunklen Flecken bleiben doch. Dass der 9. November auch noch Tag der Erfinder geworden ist, gefällt mir wegen seiner Ziele wie „Mut zu eigenen Ideen und zur Veränderung“und „zur Mitarbeit an unserer Zukunft“. Und das ist bitter nötig.