Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Eine Stadt kämpft ums Überleben
Das ukrainische Mykolajiw ist zerbombt. Den Einwohnern fehlt es an Gas, Strom sowie Essen – und an Trinkwasser
Mykolajiw. Sorgfältig schraubt der in seine Arbeitsbühne eingehakte Tischler die Sperrholzplatten an den kaputten Fensterrahmen in der Parkowka-Straße fest. Auf dem Asphalt des Gehweges vor dem Haus zeigt eine sternförmige Markierung an, dass das Gebäude vor einigen Monaten von Streubomben getroffen wurde. „Die Russen haben auf das Kinderkrankenhaus gleich da gezielt“, sagt Oleksandr Senkewitsch, Bürgermeister von Mykolajiw, und zeigt auf ein Gebäude etwa zehn Meter weiter.
Er inspiziert die neuesten Reparaturen, die in seiner seit acht Monaten unter Beschuss stehenden Stadt gerade durchgeführt werden. Nun kommt der Winter. „Jetzt müssen wir so viele Wohngebäude wie möglich abdichten. Und alles, was wir dafür haben, ist Sperrholz“, sagt er.
Noch im Sommer verlief im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die Frontlinie durch seine Stadt. Seit die ukrainische Armee zahlreiche Gebiete zurückerobert hat, liegt die Front 20 Kilometer weiter Richtung Cherson. Doch rund um den Ort schlagen weiter Geschosse ein.
Der Bürgermeister ist umringt von Menschen, die auf Hilfe warten. Auch über die sozialen Netzwerke im Internet erreichen Senkewitsch Hunderte Nachrichten der Einwohner, die zu Kriegsbeginn evakuiert werden mussten. „Sie wollen alle zurückkommen. Sie haben genug von Europa. Die Ukraine und Mykolajiw fehlen ihnen“, sagt er und schaut auf sein Telefon.
Er liest laut vor: „Wann können wir wiederkommen?“Diese Frage werde ihm am häufigsten gestellt. „Ich muss ihnen dann sagen, dass sie noch Geduld brauchen. Dass es nicht vorbei ist“, erzählt er. Der Bürgermeister beschwört das Szenario einer langen, für die ukrainischen Streitkräfte verlustreichen Belagerung von Cherson herauf.
Nun fürchten die Menschen den Einbruch des Winters
Der Herbst war mild, nun aber fürchten alle hier den Einbruch des Winters. Die Stadt ist nach acht Monaten Krieg größtenteils zerbombt. Wasser, Gas, Strom, Nahrungsmittel – viele Straßen, Leitungen, Netz und Verteiler sind zerstört, alles ist Mangelware. Aber das Trinkwasser und das Heizen bereiten den Einwohnern die meisten Sorgen.
„Beim Gas werden wir hinkommen. Und was die Stromversorgung angeht, haben Sie ja selbst gemerkt, dass die Stadt ab 19 Uhr im Dunkeln liegt“, sagt der Bürgermeister. Auch beim Heizen hat er eine Idee. „Wir werden den ganzen Tag beheizte Unterkünfte einrichten, wo die Menschen Unterschlupf finden und schlafen können, wenn es in ihren Häusern zu kalt ist.“Und dank der humanitären Hilfe der EU seien die Supermärkte versorgt. „Nein, das wirkliche Problem ist Wasser.“
Am 12. April hat das Wasser nach einem Sabotageakt an den Zuleitungen mitten im von Russland besetzten Gebiet aufgehört zu fließen. Da die Pumpen für Reparaturen außer Reichweite liegen, musste die Stadt einen Monat lang ohne Wasser auskommen. Der Notstand hat die Stadtverwaltung dazu gezwungen, die Leitungen direkt mit dem Fluss Bug zu verbinden, der die Stadt von zwei Seiten umschließt.
„Wie im Mittelalter“, entfährt es Boris Dudenko, der vor einer Karte der Stadt und des Umlandes steht. Der 50-jährige Leiter der Wasserwerke von Mykolajiw sieht sich mit der größten Herausforderung seit seinem Amtsantritt konfrontiert.
Der Bug, der ganz in der Nähe ins Schwarze Meer mündet, ist Strömungen ausgesetzt, die in die Mündung hineinreichen und das Wasser völlig versalzen. „Das ist unser Fluch. Das Wasser ist lebenswichtig, aber es zerstört alles“, sagt er und zeigt auf zwei Rohrstücke, die völlig von Rost zerfressen sind. „Die Instandsetzungsmannschaften haben sie mir heute Morgen vorbeigebracht.“Seit Mai fließt das Meerwasser durch die Leitungen der Stadt und lässt alles korrodieren.
„Zu den Raketen kommt jetzt auch noch der Rost. Das Salzwasser
greift alles an, aber wir können es nicht entsalzen. Das wäre zu teuer. Wir können es nur filtern und diese orange Färbung etwas entfernen, die den Menschen solche Angst macht.“Das Schlimme daran ist, dass das Salzwasser auch alle Haushaltsgeräte in der Stadt angreift.
Die Stadtverwaltung hat Grabungen verfügt, um an die Grundwasserbecken zu gelangen. „Aber die Vorräte reichen nicht aus“, sagt Dudenko. „Und wir riskieren, dass das Wasser diesen Winter, wenn es in Tanks in den Vierteln gelagert wird, gefriert.“Die Wasserversorgung selbst ist vor der Kälte sicher. „Die Böden frieren etwa einen Meter tief, die Leitungen liegen aber tiefer.“
In einer Straße arbeiten drei Monteure in einem Wasserloch. „Wegen der Strom- und Gasleitungen müssen wir alles per Hand machen“, sagt Wolodymyr, einer von ihnen. Er gräbt den Schlamm weg, um an die defekte Leitung zu kommen. „Früher hatten wir drei Einsätze am Tag. Heute sind wir bei fast 20 Grabungen am Tag. Die Leitungen halten dem Salz nicht stand.“
Etwas entfernt zieht eine Frau in einer roten Jacke ihren Caddy mit Wasserbehältern. „Zum Glück haben sie diese Wasserstellen eröffnet“, sagt sie. Dann dreht sie sich
noch mal um: „Der Wassermangel ist schlimm. Aber das Schlimmste ist, am Abend mit der Ungewissheit einzuschlafen, ob man am nächsten Morgen wieder aufwacht.“