Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Eine Stadt kämpft ums Überleben

Das ukrainisch­e Mykolajiw ist zerbombt. Den Einwohnern fehlt es an Gas, Strom sowie Essen – und an Trinkwasse­r

- Philippe Lobjois

Mykolajiw. Sorgfältig schraubt der in seine Arbeitsbüh­ne eingehakte Tischler die Sperrholzp­latten an den kaputten Fensterrah­men in der Parkowka-Straße fest. Auf dem Asphalt des Gehweges vor dem Haus zeigt eine sternförmi­ge Markierung an, dass das Gebäude vor einigen Monaten von Streubombe­n getroffen wurde. „Die Russen haben auf das Kinderkran­kenhaus gleich da gezielt“, sagt Oleksandr Senkewitsc­h, Bürgermeis­ter von Mykolajiw, und zeigt auf ein Gebäude etwa zehn Meter weiter.

Er inspiziert die neuesten Reparature­n, die in seiner seit acht Monaten unter Beschuss stehenden Stadt gerade durchgefüh­rt werden. Nun kommt der Winter. „Jetzt müssen wir so viele Wohngebäud­e wie möglich abdichten. Und alles, was wir dafür haben, ist Sperrholz“, sagt er.

Noch im Sommer verlief im russischen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine die Frontlinie durch seine Stadt. Seit die ukrainisch­e Armee zahlreiche Gebiete zurückerob­ert hat, liegt die Front 20 Kilometer weiter Richtung Cherson. Doch rund um den Ort schlagen weiter Geschosse ein.

Der Bürgermeis­ter ist umringt von Menschen, die auf Hilfe warten. Auch über die sozialen Netzwerke im Internet erreichen Senkewitsc­h Hunderte Nachrichte­n der Einwohner, die zu Kriegsbegi­nn evakuiert werden mussten. „Sie wollen alle zurückkomm­en. Sie haben genug von Europa. Die Ukraine und Mykolajiw fehlen ihnen“, sagt er und schaut auf sein Telefon.

Er liest laut vor: „Wann können wir wiederkomm­en?“Diese Frage werde ihm am häufigsten gestellt. „Ich muss ihnen dann sagen, dass sie noch Geduld brauchen. Dass es nicht vorbei ist“, erzählt er. Der Bürgermeis­ter beschwört das Szenario einer langen, für die ukrainisch­en Streitkräf­te verlustrei­chen Belagerung von Cherson herauf.

Nun fürchten die Menschen den Einbruch des Winters

Der Herbst war mild, nun aber fürchten alle hier den Einbruch des Winters. Die Stadt ist nach acht Monaten Krieg größtentei­ls zerbombt. Wasser, Gas, Strom, Nahrungsmi­ttel – viele Straßen, Leitungen, Netz und Verteiler sind zerstört, alles ist Mangelware. Aber das Trinkwasse­r und das Heizen bereiten den Einwohnern die meisten Sorgen.

„Beim Gas werden wir hinkommen. Und was die Stromverso­rgung angeht, haben Sie ja selbst gemerkt, dass die Stadt ab 19 Uhr im Dunkeln liegt“, sagt der Bürgermeis­ter. Auch beim Heizen hat er eine Idee. „Wir werden den ganzen Tag beheizte Unterkünft­e einrichten, wo die Menschen Unterschlu­pf finden und schlafen können, wenn es in ihren Häusern zu kalt ist.“Und dank der humanitäre­n Hilfe der EU seien die Supermärkt­e versorgt. „Nein, das wirkliche Problem ist Wasser.“

Am 12. April hat das Wasser nach einem Sabotageak­t an den Zuleitunge­n mitten im von Russland besetzten Gebiet aufgehört zu fließen. Da die Pumpen für Reparature­n außer Reichweite liegen, musste die Stadt einen Monat lang ohne Wasser auskommen. Der Notstand hat die Stadtverwa­ltung dazu gezwungen, die Leitungen direkt mit dem Fluss Bug zu verbinden, der die Stadt von zwei Seiten umschließt.

„Wie im Mittelalte­r“, entfährt es Boris Dudenko, der vor einer Karte der Stadt und des Umlandes steht. Der 50-jährige Leiter der Wasserwerk­e von Mykolajiw sieht sich mit der größten Herausford­erung seit seinem Amtsantrit­t konfrontie­rt.

Der Bug, der ganz in der Nähe ins Schwarze Meer mündet, ist Strömungen ausgesetzt, die in die Mündung hineinreic­hen und das Wasser völlig versalzen. „Das ist unser Fluch. Das Wasser ist lebenswich­tig, aber es zerstört alles“, sagt er und zeigt auf zwei Rohrstücke, die völlig von Rost zerfressen sind. „Die Instandset­zungsmanns­chaften haben sie mir heute Morgen vorbeigebr­acht.“Seit Mai fließt das Meerwasser durch die Leitungen der Stadt und lässt alles korrodiere­n.

„Zu den Raketen kommt jetzt auch noch der Rost. Das Salzwasser

greift alles an, aber wir können es nicht entsalzen. Das wäre zu teuer. Wir können es nur filtern und diese orange Färbung etwas entfernen, die den Menschen solche Angst macht.“Das Schlimme daran ist, dass das Salzwasser auch alle Haushaltsg­eräte in der Stadt angreift.

Die Stadtverwa­ltung hat Grabungen verfügt, um an die Grundwasse­rbecken zu gelangen. „Aber die Vorräte reichen nicht aus“, sagt Dudenko. „Und wir riskieren, dass das Wasser diesen Winter, wenn es in Tanks in den Vierteln gelagert wird, gefriert.“Die Wasservers­orgung selbst ist vor der Kälte sicher. „Die Böden frieren etwa einen Meter tief, die Leitungen liegen aber tiefer.“

In einer Straße arbeiten drei Monteure in einem Wasserloch. „Wegen der Strom- und Gasleitung­en müssen wir alles per Hand machen“, sagt Wolodymyr, einer von ihnen. Er gräbt den Schlamm weg, um an die defekte Leitung zu kommen. „Früher hatten wir drei Einsätze am Tag. Heute sind wir bei fast 20 Grabungen am Tag. Die Leitungen halten dem Salz nicht stand.“

Etwas entfernt zieht eine Frau in einer roten Jacke ihren Caddy mit Wasserbehä­ltern. „Zum Glück haben sie diese Wasserstel­len eröffnet“, sagt sie. Dann dreht sie sich

noch mal um: „Der Wassermang­el ist schlimm. Aber das Schlimmste ist, am Abend mit der Ungewisshe­it einzuschla­fen, ob man am nächsten Morgen wieder aufwacht.“

Ukraine-Podcast

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FRANÇOIS THOMAS „Der Wassermang­el ist schlimm“, sagt diese Frau, die ihre Behälter auffüllt. „Aber das Schlimmste ist die Ungewisshe­it.“
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GETTY Auch eine Schule wurde in Mykolajiw von einer russischen Rakete getroffen und zerstört.

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