Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Zuversicht für alle
Thüringer Bachwochen bieten Erbauliches für jedermann und starten den Vorverkauf mit revolutionärem Preissystem
Ich finde es essenziell, dass jeder, der gerne möchte, Eintritt zu den Konzerten erhält.“Christoph Drescher, Geschäftsführer der Thüringer Bachwochen
Erfurt. „Es ist ein Experiment mit offenem Ausgang“, gesteht Christoph Drescher lächelnd. „Die Kollegen erklären uns für völlig verrückt.“So skizziert der Geschäftsführer der Thüringer Bachwochen das neue, geradezu revolutionäre Ticketing fürs Traditionsfestival: Die Preisgestaltung liegt – nach dem Motto „Zahle, was du kannst“– nunmehr ganz in Händen des Publikums. Diesen Donnerstag beginnt der Vorverkauf für die Saison 2023, die wie stets mit reichlich Prominenz und innovativen Programmen getrüffelt ist. Drescher weiß, was er tut.
Schlicht „Zuversicht“prangt in grünen Großbuchstaben als Jahresthema auf den druckfrischen Programmheften. 50 Konzerte vom 31. März bis 23. April 2023 verheißen Erbauliches mit Stars wie Philippe Herreweghe, René Jacobs und Ton Koopman, der Akademie für Alte Musik und den King’s Singers.
So sind es Freunde und Fans aus der Bach-Community seit jeher zur Passionszeit gewohnt. Trotzdem wird diesmal alles anders.
Denn Drescher hat sich in völligem Einvernehmen mit Silvius von Kessel, dem Vorsitzenden des Trägervereins, zum maximal sozialen Ansatz entschlossen, um niemanden qua Geldbeutel von den Veranstaltungen auszuschließen. So gibt er lediglich Hinweise, welcher Eintrittspreis jeweils angemessen wäre, überlässt die Entscheidung bei der Ticketbuchung jedoch allein den Besucherinnen und Besuchern.
Erfahrungen sammelt man zurzeit mit einem ambitionierten Zwischenprogramm „Bach forward“(10. November bis 20. April), das nach demselben Prinzip funktioniert. Drescher: „Etwa ein Viertel der Leute wählt den vorgeschlagenen
Preis, die anderen zahlen mal mehr, mal weniger.“Und wer mag, kann ja nach dem Konzert auch einen Nachschlag spenden.
Gerade in Krisenzeiten ist die innere Einkehr sowie Muße und Meditation bei der Musik essenziell; sogenannte „Bach-Frömmigkeit“erfreut sich der Verbreitung bis weit in Kreise hinein, die keinerlei religiöse Bindung verspüren. „Ohne die Musik hätte auch einer wie Bach sein Leben mental nicht meistern können“, merkt Drescher an.
Prominent musizierte Passionen trösten in der Karwoche
Gewiss wird Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, in ihrer Reflexion im Prologkonzert zum Bach-Geburtstag darauf eingehen, wenn Weimar Baroque am 21. März in Arnstadt Zuversichtliches spielt. Zur Eröffnung der Bachwochen gestalten dann Philippe Herreweghe und sein Collegium Vocale Gent am 1. April in der Georgenkirche zu Eisenach die Johannespassion. Deren
Pendant nach Worten des Evangelisten Matthäus folgt am Karfreitag mit dem eminenten britischen Ensemble Solomon’s Knot in Weimar.
Weitere Passionsgelegenheiten gibt es mit vorzüglichen Ensembles aus Thüringen oder auf überraschende Weise mit Holland Baroque und einer klösterlichen Entdeckung aus der Bach-Zeit unter dem Titel „Die Tränen von Brabant“; oder mit dem Tenor Benedikt Kristjánsson, dessen „Judas“- Interpretation auf Texten von Amos Oz fußt.
Das Bundesjugendballett tanzt die John Neumeier-Choreographie „John’s – BJB-Bach“, und die King’s
Singers schlagen den Bogen von der Renaissance bis in die Gegenwart.
Spannende Projekte reagieren auf zeitgenössische Bedürfnisse
Als Ensembles in Residence gastieren das belgische B’Rock Orchestra & Vocal Consort sowie das Orchester im Treppenhaus; letzteres reagiert unmittelbar auf Musikwünsche der Zuhörerschaft und schüttelt zudem – „Disco“! – Tanzbares fürs junge Volk aus der Griffhand.
Besonders liegen Christoph Drescher drei ungewöhnliche Projekte am Herzen. Die Pianistin Nina Gurol, zugleich ausgebildete Sterbebegleiterin,
hält einen Workshop mit einer 8. Klasse des Elisabeth-Gymnasiums Eisenach: über das Trösten und Abschiednehmen. Auch hier geht’s – trotz allem – um Zuversicht.
Ebenso wie bei dem Filmprojekt der eminenten Cellistin Tanja Tetzlaff als Glenn-Gould-Bach-Fellow: Sie hat die Solo-Suiten eingedenk einer vom Klimawandel verwundeten Welt eingespielt. Und Leipzigs Universitätsmusikdirektor David Timm schreibt als Composer in Residence eine Kantate – unter ähnlichem Zeitdruck wie das große Vorbild Johann Sebastian anno 1723.
Die Bachwochen 2023 finanzieren sich mithilfe von Fördergeldern der Staatskanzlei, dem „Neustart Kultur“-Programm des Bundes, von den Bachorten sowie von Stiftungen und Sponsoren. Ein Viertel des 950.000-Euro-Etats müssen jedoch die Ticketerlöse eintragen. Ob das wohl gelingt? – Zuversicht zählt.