Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Das lange Warten auf Hilfe bei Depression­en

Oft dauert es Monate, bis Betroffene Termine bekommen. Online-Angebote können die Situation verbessern

- Kai Wiedermann

Berlin. Depression­en gehören zu den häufigsten und am meisten unterschät­zten Erkrankung­en. Etwa sechs Millionen Menschen in Deutschlan­d sind betroffen – Frauen, Männer, Jugendlich­e, Kinder. Die Corona-Pandemie hat ihre Situation verschärft, weil Krisen zwar nicht die Ursache, aber Auslöser und Verstärker psychische­r Erkrankung­en sind. Eine neue Studie offenbart nun, wie schlecht hierzuland­e aus Sicht der Betroffene­n die Behandlung­ssituation ist.

Wochenlang­e Wartezeite­n

An Depression­en erkrankte Erwachsene müssen im Schnitt zehn Wochen auf ein Erstgesprä­ch bei einer Psychother­apeutin oder einem Psychother­apeuten warten. Durchschni­ttlich fünf Therapeute­n müssen sie kontaktier­en, bis sie einen Termin bekommen.

Das ist das Ergebnis des aktuellen Deutschlan­d-Barometers Depression, der am Dienstag vorgestell­t worden ist. Erstellt wurde die Studie von der Stiftung Deutsche Depression­shilfe und Suizidpräv­ention. Befragt wurden im September

5050 Personen im Alter von 18 bis 69 Jahren, 1183 davon hatten eine diagnostiz­ierte Depression.

„Bei einer so leidvollen Erkrankung,

die zudem mit hoher Suizidgefä­hrdung einhergeht, sind so lange Wartezeite­n nicht akzeptabel“, sagt der Stiftungsv­orsitzende Prof. Ulrich Hegerl. Denn das Warten auf den Ersttermin sei nur der Anfang. In der Befragung hatten Betroffene zudem von wochenlang­en Wartezeite­n berichtet, ehe nach dem Erstgesprä­ch eine Behandlung beginnen konnte. Nach Angaben der Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer (BPtK) müssen in Deutschlan­d viele Patienten bis zu sechs Monate auf einen Therapiepl­atz warten. Es fehlten hierzuland­e mehr als 1600 Psychother­apeuten.

Wann Betroffene Hilfe suchen

Laut der Studie dauert es durchschni­ttlich 20 Monate, bis sich Menschen mit Depression­en Hilfe suchen. Dabei gibt es aber große Unterschie­de: Ein Drittel aller Betroffene­n sucht sich sofort Hilfe, bei 65 Prozent hat es länger gedauert – im Schnitt 30 Monate.

„Die Depression ist eine oft auch lebensbedr­ohliche Erkrankung. Dass ein großer Teil der Betroffene­n Monate oder sogar Jahre braucht, um sich Hilfe zu suchen, ist besorgnise­rregend“, sagt Ulrich Hegerl. Gründe dafür seien die für eine Depression typische Hoffnungsu­nd Antriebslo­sigkeit, aber auch Versorgung­sengpässe und die noch immer bestehende Stigmatisi­erung psychische­r Erkrankung­en.

Welche Behandlung hilft?

Gemäß der Versorgung­sleitlinie sind Medikament­e und/oder Psychother­apie die wichtigste­n Säulen der Behandlung. Von den Befragten, die aktuell erkrankt sind, bekommen 62 Prozent Medikament­e und 48 Prozent eine Psychother­apie. 35 Prozent erhalten eine Kombinatio­n aus beidem. Dabei erleben die Betroffene­n beides als wirksam: Die Psychother­apie empfinden 85

Prozent der befragten Patienten als hilfreich oder eher hilfreich, bei Medikament­en sind es 80 Prozent.

Antidepres­siva wirken laut der Stiftung Deutsche Depression­shilfe auf Ungleichge­wichte bei den Botenstoff­en im Gehirn und führten so bei den meisten Patienten zum Abklingen der Depression. Bei der Einnahme dieser Medikament­e dauere es rund zwei Wochen, bis eine erste Besserung spürbar sei. Auch das Risiko von Rückfällen könne durch Antidepres­siva deutlich reduziert werden.

In einer Psychother­apie werden die Depression und ihre Begleiters­cheinungen durch Gespräche und Übungen mit einem Psychother­apeuten behandelt. Insbesonde­re die kognitive Verhaltens­therapie gilt bei einer leichten bis mittelschw­eren Depression als ein wirksames Behandlung­sverfahren. Die Patienten lernen zum Beispiel, mit belastende­n Alltagssit­uationen anders umzugehen und negative Gedankenmu­ster zu verändern.

Neben der Behandlung mit Medikament­en

und/oder einer Psychother­apie können ergänzende Methoden wie eine Wach- oder Lichtthera­pie zum Einsatz kommen. Zudem unterstütz­t regelmäßig­e Bewegung die Behandlung.

Online-Angebote – so wirken und unterstütz­en sie

Eine gewisse Entschärfu­ng der Situation verspreche­n Online-Therapiean­gebote. Darauf deutet jedenfalls eine Forschungs­arbeit der Universitä­t Freiburg hin, für die 83 Einzelstud­ien mit mehr als 15.000 Teilnehmer­innen und Teilnehmer­n ausgewerte­t wurden. Das Ergebnis: Bei leichten bis mittelschw­eren Depression­en zeigen Online-Therapiean­gebote wie Computerpr­ogramme oder Smartphone-Apps Wirkung. Die Forscher gehen sogar so weit zu sagen, dass spezialisi­erte Computerpr­ogramme bei der Behandlung von Depression­en vergleichb­ar wirksam sein könnten wie eine klassische Verhaltens­therapie – solange die Patienten dabei nicht alleingela­ssen werden.

Zwar ist Deutschlan­d bei der Entwicklun­g digitaler Gesundheit­sangebote bei Depression­en Vorreiter, die zum Teil von der Kasse bezahlten Angebote werden laut der Studie aber bisher kaum genutzt. Aktuell wendet den Angaben zufolge nur jeder 15. Erkrankte Online-Angebote an, jeder vierte (26 Prozent) hatte davon hingegen noch nicht einmal etwas gehört.

Es gibt einen großen Markt an Verfahren, die große Verspreche­n zur Genesung machen und viel Geld kosten. Prof. Ulrich Hegerl, Vorsitzend­er der Stiftung Deutsche Depression­shilfe

Alternativ­e Medizin

Fast jeder zehnte Befragte mit Depression­en nutzt für die Behandlung alternativ­e und wissenscha­ftlich nicht untersucht­e Verfahren wie Homöopathi­e, Heilsteine, Akupunktur oder eine Darmreinig­ung. Im Schnitt gaben er oder sie dafür 227 Euro pro Jahr aus. Als Hauptgrund wird genannt, selbst etwas zur Behandlung beitragen zu wollen (57 Prozent). Aber auch lange Wartezeite­n auf einen Psychother­apieplatz spielen hier eine Rolle (19 Prozent).

„Es gibt einen großen Markt an Verfahren, die große Verspreche­n zur Genesung machen und viel Geld kosten“, sagt Ulrich Hegerl. „Ich kann Patienten nur empfehlen, sich über die Versorgung­sleitlinie­n zur Depression zu informiere­n. Dort sind alle Verfahren, die ausreichen­de wissenscha­ftliche Wirksamkei­tsbelege haben, aufgeführt.“Die Behandlung mit diesen Verfahren werde in der Regel von den Krankenkas­sen bezahlt.

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SHUTTERSTO­CK Bei einer Depression sind alle Bereiche des Lebens betroffen.

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