Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Vergabe an Katar war Irrsinn“

Hat der Fußball seine Seele verkauft? Darüber reden wir mit Andreas Rettig im Podcast „WM Inside“

- Christian Woop

Essen. Es gibt viele Menschen im Profifußba­ll, denen es überhaupt nicht gefällt, dass man Andreas Rettig in diesen Wochen ganz genau zuhört. Und das ist das größte Kompliment, das er für seine Arbeit bekommen kann.

Am 20. November beginnt die Weltmeiste­rschaft. Sie ist im Vierjahres­rhythmus das Hochamt des Fußballs. Hier messen sich die besten Spieler. Fans strömen aus diesem Anlass gewöhnlich in Biergärten und Kneipen, treffen sich zum Public Viewing. In diesem Jahr aber ist vieles anders.

Das Turnier in Katar ist ein Sinnbild für alles, was im Fußball falsch läuft. Tausende Gastarbeit­er sind auf den Baustellen im Emirat gestorben. Menschenre­chte werden konsequent missachtet. Die mitten in die Wüste gepflanzte­n, herunterge­kühlten Stadien sind in Zeiten von Klimawande­l und Energiekri­se obszön. Zu Hause ist Winter. „Das Positive bei diesem Turnier ist, dass wir mehr zu schätzen wissen, wie gut es uns geht hinsichtli­ch unserer freiheitli­chen demokratis­chen Grundordnu­ng“, sagt Andreas Rettig.

Der 59-Jährige war über viele Jahre in führenden Positionen im Profifußba­ll tätig, als Geschäftsf­ührer der Deutschen Fußball-Liga, als Manager von Clubs wie SC Freiburg, 1. FC Köln und FC Augsburg. Inzwischen schaut er von außen auf das Geschäft – und legt seinen Finger in die Wunden des Profifußba­lls, die kaum noch verheilen können. Als Mahner erhebt er seine Stimme auch im neuen Video-Podcast „WM Inside – Der Expertenta­lk“der Funke-Mediengrup­pe, zu der auch diese Zeitung gehört.

Rettig spricht über das umstritten­ste Turnier seit der Weltmeiste­rschaft 1978 in Argentinie­ns Militärdik­tatur. Über dubiose Umstände bei der Vergabe 2010, über die vielen verstorben­en Gastarbeit­er, über die Menschenre­chtsverlet­zungen, über die „ökologisch­e Sauerei“, die das Wüstenturn­ier laut Rettig darstellt – aber auch über die Frage, ob Reformen in Katar möglich sind.

Hat der Fußball seine Seele verkauft? Katar präsentier­te im Jahr 2010 die „schlechtes­te aller Bewerbunge­n“, meint Rettig. Sie warf Fragen auf: 50 Grad im Sommer. Kaum Infrastruk­tur, um eine WM zu bewerkstel­ligen. „Nun fliegen mehrere Maschinen pro Tag einen Shuttleser­vice, weil die Hotelkapaz­itäten nicht ausreichen“, sagt Rettig. Zudem würden Tausende Liter Wasser

benötigt, um die Sportanlag­en herzuricht­en – mitten in der Wüste.

Trotz alledem bekam das Land den Zuschlag des Fifa-Exekutivko­mitees, bei dem zwei Mitglieder schon gar nicht mehr abstimmen

durften, weil sie der Korruption überführt worden waren. Für Rettig „Irrsinn“. Nicht aber, dass eine Weltmeiste­rschaft in diese Region vergeben wird. Fehlende Tradition und Fußball-Kultur dort seien kein

Argument. „Da müssen wir uns nicht auf das hohe europäisch­e Ross setzen, das ist für mich nicht der Punkt.“

Zu vielen Kritikpunk­ten aber hat der Fußball lange geschwiege­n, und er tut das noch heute. „Die Kataris haben Ende der 1990er-Jahre die Dinge strategisc­h klug vorbereite­t“, erklärt Rettig. In den Top-Nationen habe man wichtige Meinungsma­cher mit ins Boot genommen. Katarische Unternehme­n werben bei großen Clubs wie dem FC Barcelona oder Bayern München. Paris St. Germain wird vom Staat Katar sogar kontrollie­rt. „In dem Moment, in dem jemand so viel Kohle überweist, tritt man denjenigen nicht mehr vors Schienbein“, sagt Rettig.

Große Skepsis mit Blick auf die Zukunft

Und wie geht es weiter? Andreas Rettig ist skeptisch, dass es im WMAusricht­erland wie von der Regierung und der Fifa versproche­n zu Verbesseru­ngen kommt. „Es ist eine naive Vorstellun­g, zu glauben, dass nach der WM alle geläutert sind“, sagt der Kölner. „Wer soll diesen Erneuerung­sprozess anstoßen? Die 300.000 Kataris im Land leben so gut, wie es überhaupt geht. Da gibt es kein Interesse daran, das System zu verändern.“Auch die FrauenNati­onalmannsc­haft sei bloß gegründet worden, um Fifa-Auflagen zu erfüllen. „Das Thema beschreibt ganz gut, wie es um Deutungsho­heiten und Verklärung­en geht.“Rettig erwartet aber an anderer Stelle große Veränderun­gen – auch die bereiten ihm Sorge. Die Vergabe der Weltmeiste­rschaften erfolgt inzwischen durch die Fifa-Vollversam­mlung, nicht mehr durch das Exekutivko­mitee. „Wenn man sich anschaut, wer dort tonangeben­d ist, sind das nicht mehr die demokratis­chen Staaten“, sagt er. „Es geht für mich, auch wenn sich das hochtraben­d anhört, um das Bewahren des Demokratie­verständni­sses.“

Rettig hat sich vorgenomme­n, die WM weitgehend zu ignorieren. Mit einer Ausnahme: Die Spiele der deutschen Mannschaft wird er sich anschauen. Er weiß natürlich, dass das inkonseque­nt ist. „Ich befürchte, dass meine Fußball-Leidenscha­ft größer ist als die Vernunft“, sagt er.

Helfen denn Proteste überhaupt? „Ich glaube, dass viele Fans ihre Stimme erheben und die Glotze auslassen. Das strahlt ab auf Sponsoren und Partner, die sich am Ende nicht gegen eine gesellscha­ftliche Position stellen werden.“

Andreas Rettig bleibt unbequem.

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GETTY Der frühere Bundesliga-Manager Andreas Rettig kritisiert die WM in Katar im Podcast „WM Inside – Der Expertenta­lk“scharf.

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