Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Rätsel um Russen-Abzug aus Cherson

Rückzug oder Falle: Eine der größten Niederlage­n der Invasoren in der Ukraine wirft Fragen auf

- Michael Backfisch

Berlin. Selten gaben sich russische Spitzenmil­itärs derart kleinlaut. „Beginnen Sie mit dem Abzug der Soldaten. Das Leben und die Gesundheit der Soldaten der Russischen Föderation waren immer eine Priorität“, sagte Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu am Mittwochab­end im Fernsehen. Mit am Tisch saß der russische Oberkomman­deur der Ukraine, Sergej Surowikin. Schoigu wirkte blass, Surowikin hatte dicke Tränensäck­e unten den Augen. Die Ankündigun­g des Rückzugs aus der strategisc­h wichtigen südukraini­schen Stadt Cherson und Teilen der gleichnami­gen Region fiel beiden offensicht­lich nicht leicht.

Die Aufgabe der im März besetzten Gebietshau­ptstadt Cherson ist eine der größten militärisc­hen Niederlage­n der Russen seit Beginn des Ukraine-Krieges am 24. Februar. Im März erwies sich die geplante Blitzkrieg­seroberung von Kiew als Fehlschlag. Im September gelang den Ukrainern mit der Befreiung der Donbass-Metropole Charkiw eine Überraschu­ng. Die Ukrainer ergriffen sofort die Initiative. Am Donnerstag rückten ukrainisch­e Truppen nun etwa sieben Kilometer in den südlichen Gebieten Cherson und Mykolajiw vor.

Doch was steckt hinter dem Manöver der Russen? Handelt es sich wirklich um eine völlige Räumung der Region? Oder ist es eine Falle? „Mit dem Rückzug aus Cherson wollen die Russen einen für sie sehr verlustrei­chen Kampf vermeiden“, sagte der ehemalige Bundeswehr­General Hans-Lothar Domröse unserer Redaktion. „Das ist politisch schmerzhaf­t für Präsident Wladimir Putin: Er gibt Territoriu­m auf, das er kürzlich annektiert hat. Aber er schont Menschenle­ben.“Den Ukrainern war es in den vergangene­n Wochen zunehmend gelungen, die russischen Verbände westlich des Dnipro-Flusses zu beschießen. Darüber hinaus beschädigt­en sie mit US-Mehrfachra­ketenwerfe­rn vom Typ Himars viele Brücken, die über den Dnipro führten. Damit waren die russischen Einheiten von ihrem Nachschub – Personal, Waffen und Nahrungsmi­tteln – abgeschnit­ten.

Rund 100.000 russische Soldaten getötet oder verwundet

Die Himars-Raketen, die eine Reichweite von bis zu 90 Kilometern haben, trafen aber auch Munitionsu­nd Logistikde­pots der Russen

östlich des Dnipro. Nach Einschätzu­ng des US-Generalsta­bschefs Mark Milley wurden bislang rund 100.000 russische Soldaten in der Ukraine getötet oder verwundet.

„Putin geht nun zur strategisc­hen Verteidigu­ng über. Das Gelände östlich des Dnipro ist leichter zu verteidige­n als das Gebiet westlich davon“, betont Domröse. „Es wird zu einer Zementieru­ng der Frontlinie­n östlich des Dnipro kommen.“Russland dürfte dazu übergehen, die Truppen in diesem Gebiet zu verstärken. Einheiten der Privatarme­e Wagner haben bereits begonnen, in den hinteren Gefechtsli­nien Panzersper­ren zu errichten, um einen weiteren Vormarsch der ukrainisch­en Verbände zu stoppen.

Für die Ukrainer biete der russische Rückzug einen großen strategisc­hen Vorteil, unterstrei­cht Domröse: „Ein schneller russischer Vorstoß auf die wichtige Hafenstadt Odessa ist nun nicht mehr möglich. Das stärkt die Kampfmoral der Ukrainer.“

In Kiew versuchte man, die Nachrichte­n aus Moskau herunterzu­spielen. „Der Feind macht uns keine Geschenke, macht keine Gesten des guten Willens“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Das ukrainisch­e Militär werde sich weiter „sehr vorsichtig, ohne Emotionen, ohne unnötiges Risiko“bewegen. Gleichzeit­ig warnte Selenskyj Moskau davor, den Befehl zum Sprengen des Kachowka-Staudamms oberhalb von Cherson oder zur Beschädigu­ng

des Atomkraftw­erks Saporischs­chja zu geben. „Dies würde bedeuten, dass sie der gesamten Welt den Krieg erklären.“

Der ukrainisch­e Präsidente­nberater Mykhailo Podolyak warf den russischen Truppen vor, Cherson in eine „Stadt des Todes“verwandeln zu wollen. Das russische Militär habe „alles vermint, was sie können: Wohnungen, Abwasserka­näle“. Der britische Geheimdien­st kam zu ähnlich düsteren Einschätzu­ngen.

Um die Rückerober­ung von Cherson für die Ukraine zu erschweren, sollen russische Truppen Brücken zerstört und mutmaßlich auch Minen gelegt haben.

Sprengfall­en rund um die südukraini­sche Stadt

Militärisc­he Beobachter im Westen gehen davon aus, dass die Russen in und um Cherson Sprengfall­en installier­t haben, die nur schwer zu erkennen seien. Dünne Drähte seien mit den Abzugsbüge­ln einer Handgranat­e verbunden, die leicht gezündet werden könne. Ein Häuserkamp­f durch in Cherson verblieben­e russische Truppen gilt hingegen als unwahrsche­inlich. „Es wäre ein Selbstmord­kommando“, heißt es aus Fachkreise­n.

Die Hardliner in Russland, die bei militärisc­hen Rückschläg­en in der Vergangenh­eit scharfe Kritik an den eigenen Generälen geübt hatten, gaben sich dieses Mal erstaunlic­h zahm. Der Tschetsche­nenführer Ramsan Kadyrow bezeichnet­e den Rückzug aus Cherson als „schwierige, aber richtige Entscheidu­ng“. Jewgeni Prigoschin, Chef der Privatarme­e Wagner, erklärte, man müsse „die richtigen Schlüsse ziehen und an Fehlern arbeiten“. Aber nicht alle Falken hielten mit ihrer Wut hinter dem Berg. „Der Abzug aus Cherson ist Russlands größte geopolitis­che Niederlage seit dem Moment des Zusammenbr­uchs der Sowjetunio­n“, wetterte etwa der kremlnahe Politologe Sergej Markov.

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DPA/PA Bereit zum Rückzug: Russische Soldaten steigen in der Region Cherson von einem Panzer.

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