Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Die kleine Flamme des Widerstands in Russland
Die Menschenrechtsorganisation Memorial, mit dem Friedensnobelpreis geehrt, wurde verboten. Doch die Aktivisten geben nicht auf
Moskau. Nachdenklich steht Michail, der junge Student aus Nowgorod, vor einer kleinen Gedenktafel, angebracht an einem Haus in der Moskauer Innenstadt. Jahreszahlen stehen auf der Tafel. 1937, 1941, 1945, 1952. Jahre, in denen aus diesem Haus in der Marosejka-Straße Menschen verschleppt wurden und nicht wiederkamen. Verschleppt in die Gulags, die Straflager des StalinTerrors. „2022?“hat jemand mit Filzstift dazugeschrieben.
Der dünne Schriftzug ist wohl eine Anspielung auf die Teilmobilisierung für die russische „Spezialoperation“in der Ukraine. „Viele meiner Freunde haben das Land verlassen, obwohl sie friedliebende Menschen sind“, sagt Michail. Die kleine Gruppe steht im Kreis, die Teilnehmer tragen Kerzen. Sie lesen die Namen derer vor, die aus dem Haus in der Marosejka-Straße in der Stalin-Zeit verschwanden. Es ist eine nicht genehmigte Aktion und gefährlich. Ein Spaziergang zu Orten des Stalin-Terrors in Moskau, organisiert von der inzwischen verbotenen Organisation Memorial. „Ich bin mir der möglichen Risiken bewusst. Ich kann mir leicht vorstellen, dass ich für das, was ich mache, in einem Lager oder im Gefängnis landen könnte“, sagt Michail. Die Aktion von Memorial, die jüngst den Friedensnobelpreis erhielt, versteht sich auch als Protest gegen die „Spezialoperation“in der Ukraine. „Wir können nicht offen zu Antikriegs-Protesten auf der Straße aufrufen, weil das zu gefährlich wäre für die Menschen“, sagt Alexandra Poliwanowa von Memorial.
Memorial ist so etwas wie das historische Gewissen der postsowjetischen Welt. Im Keller des Memorial-Gebäudes in Moskau wird eine Ausstellung über Frauen im Gulag gezeigt. Aus Flicken genähte Kleider sind zu sehen, eine gestickte Ikone. „Für unser Land hat die Geschichte der Repressionen sehr große Bedeutung“, sagt der Historiker Sergej Bondarenko. „Schon desüber halb, weil fast jede Familie direkt oder indirekt betroffen war. Doch obwohl das Thema uns alle betrifft, ist es in der Öffentlichkeit kaum präsent.“
Memorial wurde 1989 gegründet. Ziel war und ist die „Wiederherstellung der historischen Wahrheit die politischen Repressionen in der Sowjetunion“. Im Archiv der Organisation finden sich über 40.000 Bücher und 60.000 Akten. Die wichtigste und oft einzige Quelle für Angehörige von Opfern der Stalinzeit, die Genaueres über deren Schicksal erfahren wollen. Memorial war immer unbequem. Ob der Tschetschenien-Krieg oder heute Menschenrechtsverletzungen in Russland und die Kämpfe in der Ukraine: Die Organisation mischt sich ein und ist den Machthabern, damals in der Sowjetunion und heute in Russland, ein Dorn im Auge.
Seit 2021 ist Memorial in Russland verboten. Wenige Stunden nach Bekanntgabe des Friedensnobelpreises
hat ein russisches Gericht die Beschlagnahmung der Moskauer Büros der Menschenrechtsorganisation angeordnet. Die Büros seien in „öffentliches Eigentum“umgewandelt worden, zitierte die russische Nachrichtenagentur Interfax die Gerichtsentscheidung. Was nun mit dem unersetzlichen Archiv von Memorial passieren wird, ist unklar. Die Mitarbeiter versuchen, es zu retten, die Digitalisierung läuft. Trotz des Verbots: Aktionen wie die Stadtspaziergänge soll es weiter geben. In wenigen Minuten sind sie im Netz ausgebucht. Und Michail? Trotz des Verbots will er in Nowgorod eine Zweigstelle von Memorial gründen.