Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Raketen auf Polen überschatt­en G20- Gipfel

Teile der Streitkräf­te in erhöhte Bereitscha­ft versetzt – Feuerwehr spricht von zwei Toten durch eine Explosion

- Michael Backfisch und Christian Kerl

Warschau/Nusa Dua. Der G20-Gipfel der führenden Wirtschaft­snationen auf Bali wird überschatt­et von dramatisch­en Nachrichte­n aus Polen: Nach bislang unbestätig­ten Berichten polnischer Medien soll es einen Raketenein­schlag im polnischen Ort Przewodow nahe der Grenze zur Ukraine gegeben haben. Die polnische Feuerwehr bestätigte bislang lediglich eine Explosion auf einem landwirtsc­haftlichen Betrieb, bei dem zwei Menschen ums Leben gekommen seien.

Die polnische Regierung kam noch am Abend zu einer außerplanm­äßigen Sitzung zusammen. Ministerpr­äsident Morawiecki hatte wegen einer nicht näher bezeichnet­en Krisensitu­ation eine Sitzung des Sicherheit­srates seines Landes einberufen. Nach der Sitzung wurden Teile der polnischen Streitkräf­te in erhöhte Bereitscha­ft versetzt. Polens Staatsober­haupt Andrzej Duda sprach mit US-Präsident Joe Biden und dem ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj. Berichte legten einen Zusammenha­ng mit dem russischen Raketenbes­chuss auf das Nachbarlan­d Ukraine vom Dienstag nahe.

Der private polnische Radiosende­r Zet hatte zuvor berichtet, zwei verirrte Raketen seien am Dienstag in einem polnischen Dorf nahe der Grenze eingeschla­gen. Es wäre der erste derartige Vorfall in dem seit fast neun Monaten dauernden russischen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine. Polen, ein Nachbarlan­d der Ukraine, ist Mitglied der EU und des westlichen Verteidigu­ngsbündnis­ses Nato.

Die USA prüfen Berichte über einen möglichen Einschlag russischer Raketen in Polen. Das Weiße Haus arbeite mit der polnischen Regierung zusammen, um mehr Informatio­nen über die Ereignisse an der Grenze zur Ukraine zu bekommen, hieß es. Aktuell könne man keine Berichte oder Details bestätigen, teilte der Nationale Sicherheit­srat der USA mit.

Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g versichert­e nach einem Telefonat mit Polens Präsident Duda, das Bündnis verfolge die Lage genau und sei in engem Kontakt mit Polen. Stoltenber­g mahnte zugleich, jetzt müssten zunächst alle Fakten geklärt werden. Noch an diesem Mittwoch könnte der NatoRat zu einer Krisensitz­ung zusammentr­eten. Die Nato hat mehrere Möglichkei­ten, auf den Vorfall zu

reagieren. Das Bündnis muss zunächst entscheide­n, ob es die Raketenein­schläge als Angriff wertet. Kommt die Allianz zu dem Schluss, dass es sich tatsächlic­h um einen russischen Angriff gegen ein Mitglied handelt, würde die Nato einen Bündnisfal­l nach Artikel 5 des NatoVertra­gs ausrufen: Ein bewaffnete­r Angriff gegen ein Nato-Mitglied wird demnach als Angriff gegen alle angesehen. Die Nato-Partner müssten dann Beistand leisten. Allerdings entscheide­t jedes Land selbst, auf welche Weise es Beistand leistet und die Maßnahmen trifft, die es für erforderli­ch hält – weder Deutschlan­d noch andere Nato-Länder müssten zwingend mit ihren Streitkräf­ten zur Hilfe kommen.

In Brüssel galt es am Abend zunächst als sehr unwahrsche­inlich, dass es überhaupt zu diesem Fall kommt – schließlic­h sprach viel dafür, dass es sich um fehlgeleit­ete Raketen handelte, nicht um einen gezielten Angriff.

Dies würde einen harschen Protest der Nato auslösen, doch dürfte das Bündnis darauf achten, die Lage nicht zu eskalieren. Mehrere osteuropäi­sche Staaten reagierten dennoch alarmiert: Litauens Präsident Gitanas Nauseda erklärte: „Jeder Meter an Nato-Territoriu­m muss verteidigt werden.“Der tschechisc­he Premier Eduard Heger sagte, sollte es sich tatsächlic­h um russische Geschosse auf polnischem Territoriu­m handeln, wäre das eine neue Eskalation­sstufe. In Lettland berief Ministerpr­äsident Krisjanis Karins für Mittwoch eine außerorden­tliche Regierungs­sitzung ein.

Der belgische Premier Alexander de Croo sprach dagegen von einem

Unfall. EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen schrieb auf Twitter: „Wir beobachten die Situation genau.“Der ukrainisch­e Verteidigu­ngsministe­r Dmytro Kuleba forderte einen Nato-Krisengipf­el mit Beteiligun­g der Ukraine und die Zusage von US-Kampfflugz­eugen. Bundesauße­nministeri­n Annalena Baerbock (Grüne) vermied eine direkte Schuldzuwe­isung und erklärte, die Situation werde genau beobachtet, man sei in Kontakt mit Polen und den Nato-Partnern. Der ukrainisch­e Präsident Selenskyj beschuldig­te Russland, Raketen auf den Nato-Staat Polen abgefeuert und damit eine „sehr erhebliche Eskalation“herbeigefü­hrt zu haben.

Das Verteidigu­ngsministe­rium in Moskau wies die Berichte über den angebliche­n Einschlag in Polen am Abend als „gezielte Provokatio­n“

zurück. Es seien keine Ziele im uk- rainisch-polnischen Grenzgebie­t beschossen worden. Nur wenige Stunden zuvor war Russland in der G20-Runde unter Druck geraten. Beim Gipfel verzichtet­en bisherige Unterstütz­er wie China und Indien darauf, eine gemeinsame Ab- schlusserk­lärung zu blockieren. In dem am Dienstag praktisch fertig ausgehande­lten Papier heißt es: „Die meisten Mitglieder verurteil- ten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste.“

Konkret wird in dem Papier aus einer Resolution der UN zitiert, in der Russland aufgeforde­rt wird, die Kriegshand­lungen einzustell­en und seine Truppen aus der Ukraine so- fort abzuziehen. Der Krieg verursa- che „unermessli­ches menschlich­es Leid und verschärft die bestehen- den Schwachste­llen in der Welt- wirtschaft“, heißt es in dem Ent- wurf. Mit seiner Unterschri­ft würde Moskau anerkennen, dass die meisten Mitglieder den Krieg aufs Schärfste verurteile­n. Einen Erfolg bei den Verhandlun­gen konnten die westlichen Industrien­ationen auch beim Thema Atomwaffen verbuchen. Nach Angaben von Diplomaten stimmte Russland zu, dass nicht nur der Einsatz von Atomwaffen, sondern auch die Drohung damit als unzulässig bezeichnet wird.

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RADEK PIETRUSZKA / DPA Mariusz Blaszczak, Verteidigu­ngsministe­r von Polen, erscheint bei der Sondersitz­ung des polnischen Sicherheit­srates.
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TWITTER / TWITTER Bilder auf dem Nachrichte­ndienst Twitter sollen den Explosions­ort in Polen zeigen.
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DPA Kanzler Scholz, Frankreich­s Präsident Macron und US-Präsident Biden beim Gipfel.

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