Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Raketen auf Polen überschatten G20- Gipfel
Teile der Streitkräfte in erhöhte Bereitschaft versetzt – Feuerwehr spricht von zwei Toten durch eine Explosion
Warschau/Nusa Dua. Der G20-Gipfel der führenden Wirtschaftsnationen auf Bali wird überschattet von dramatischen Nachrichten aus Polen: Nach bislang unbestätigten Berichten polnischer Medien soll es einen Raketeneinschlag im polnischen Ort Przewodow nahe der Grenze zur Ukraine gegeben haben. Die polnische Feuerwehr bestätigte bislang lediglich eine Explosion auf einem landwirtschaftlichen Betrieb, bei dem zwei Menschen ums Leben gekommen seien.
Die polnische Regierung kam noch am Abend zu einer außerplanmäßigen Sitzung zusammen. Ministerpräsident Morawiecki hatte wegen einer nicht näher bezeichneten Krisensituation eine Sitzung des Sicherheitsrates seines Landes einberufen. Nach der Sitzung wurden Teile der polnischen Streitkräfte in erhöhte Bereitschaft versetzt. Polens Staatsoberhaupt Andrzej Duda sprach mit US-Präsident Joe Biden und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Berichte legten einen Zusammenhang mit dem russischen Raketenbeschuss auf das Nachbarland Ukraine vom Dienstag nahe.
Der private polnische Radiosender Zet hatte zuvor berichtet, zwei verirrte Raketen seien am Dienstag in einem polnischen Dorf nahe der Grenze eingeschlagen. Es wäre der erste derartige Vorfall in dem seit fast neun Monaten dauernden russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Polen, ein Nachbarland der Ukraine, ist Mitglied der EU und des westlichen Verteidigungsbündnisses Nato.
Die USA prüfen Berichte über einen möglichen Einschlag russischer Raketen in Polen. Das Weiße Haus arbeite mit der polnischen Regierung zusammen, um mehr Informationen über die Ereignisse an der Grenze zur Ukraine zu bekommen, hieß es. Aktuell könne man keine Berichte oder Details bestätigen, teilte der Nationale Sicherheitsrat der USA mit.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versicherte nach einem Telefonat mit Polens Präsident Duda, das Bündnis verfolge die Lage genau und sei in engem Kontakt mit Polen. Stoltenberg mahnte zugleich, jetzt müssten zunächst alle Fakten geklärt werden. Noch an diesem Mittwoch könnte der NatoRat zu einer Krisensitzung zusammentreten. Die Nato hat mehrere Möglichkeiten, auf den Vorfall zu
reagieren. Das Bündnis muss zunächst entscheiden, ob es die Raketeneinschläge als Angriff wertet. Kommt die Allianz zu dem Schluss, dass es sich tatsächlich um einen russischen Angriff gegen ein Mitglied handelt, würde die Nato einen Bündnisfall nach Artikel 5 des NatoVertrags ausrufen: Ein bewaffneter Angriff gegen ein Nato-Mitglied wird demnach als Angriff gegen alle angesehen. Die Nato-Partner müssten dann Beistand leisten. Allerdings entscheidet jedes Land selbst, auf welche Weise es Beistand leistet und die Maßnahmen trifft, die es für erforderlich hält – weder Deutschland noch andere Nato-Länder müssten zwingend mit ihren Streitkräften zur Hilfe kommen.
In Brüssel galt es am Abend zunächst als sehr unwahrscheinlich, dass es überhaupt zu diesem Fall kommt – schließlich sprach viel dafür, dass es sich um fehlgeleitete Raketen handelte, nicht um einen gezielten Angriff.
Dies würde einen harschen Protest der Nato auslösen, doch dürfte das Bündnis darauf achten, die Lage nicht zu eskalieren. Mehrere osteuropäische Staaten reagierten dennoch alarmiert: Litauens Präsident Gitanas Nauseda erklärte: „Jeder Meter an Nato-Territorium muss verteidigt werden.“Der tschechische Premier Eduard Heger sagte, sollte es sich tatsächlich um russische Geschosse auf polnischem Territorium handeln, wäre das eine neue Eskalationsstufe. In Lettland berief Ministerpräsident Krisjanis Karins für Mittwoch eine außerordentliche Regierungssitzung ein.
Der belgische Premier Alexander de Croo sprach dagegen von einem
Unfall. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schrieb auf Twitter: „Wir beobachten die Situation genau.“Der ukrainische Verteidigungsminister Dmytro Kuleba forderte einen Nato-Krisengipfel mit Beteiligung der Ukraine und die Zusage von US-Kampfflugzeugen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) vermied eine direkte Schuldzuweisung und erklärte, die Situation werde genau beobachtet, man sei in Kontakt mit Polen und den Nato-Partnern. Der ukrainische Präsident Selenskyj beschuldigte Russland, Raketen auf den Nato-Staat Polen abgefeuert und damit eine „sehr erhebliche Eskalation“herbeigeführt zu haben.
Das Verteidigungsministerium in Moskau wies die Berichte über den angeblichen Einschlag in Polen am Abend als „gezielte Provokation“
zurück. Es seien keine Ziele im uk- rainisch-polnischen Grenzgebiet beschossen worden. Nur wenige Stunden zuvor war Russland in der G20-Runde unter Druck geraten. Beim Gipfel verzichteten bisherige Unterstützer wie China und Indien darauf, eine gemeinsame Ab- schlusserklärung zu blockieren. In dem am Dienstag praktisch fertig ausgehandelten Papier heißt es: „Die meisten Mitglieder verurteil- ten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste.“
Konkret wird in dem Papier aus einer Resolution der UN zitiert, in der Russland aufgefordert wird, die Kriegshandlungen einzustellen und seine Truppen aus der Ukraine so- fort abzuziehen. Der Krieg verursa- che „unermessliches menschliches Leid und verschärft die bestehen- den Schwachstellen in der Welt- wirtschaft“, heißt es in dem Ent- wurf. Mit seiner Unterschrift würde Moskau anerkennen, dass die meisten Mitglieder den Krieg aufs Schärfste verurteilen. Einen Erfolg bei den Verhandlungen konnten die westlichen Industrienationen auch beim Thema Atomwaffen verbuchen. Nach Angaben von Diplomaten stimmte Russland zu, dass nicht nur der Einsatz von Atomwaffen, sondern auch die Drohung damit als unzulässig bezeichnet wird.