Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Nach Anschlag: Türkischer Militärschlag gegen Kurdenmilizen erwartet
Betroffenheit über Explosion in Istanbul spielt Staatschef Erdogan in die Hände – nach innen und außen kann er nun Stärke demonstrieren
Ankara. Am Tag nach dem Bombenanschlag, bei dem am Sonntag sechs Menschen getötet und 81 verletzt wurden, wogte ein Meer von roten Fahnen auf der Istiklal-Straße. Die von den Behörden aufgezogenen Nationalflaggen sollen die Geschlossenheit der Türkei im Kampf gegen den Terror symbolisieren.
Eine Welle des Patriotismus ist genau das, was der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan jetzt braucht. Lange war er wegen der Inflation in der Defensive. Jetzt kann er Stärke zeigen.
Erstaunlich schnell nahm die Polizei wenige Stunden nach der
Explosion die angebliche Attentäterin fest. Die syrische Kurdin soll im Auftrag der Kurdenmiliz YPG gehandelt haben, des syrischen Ablegers der kurdischen Terrororganisation PKK. Beide Gruppen dementierten jede Beteiligung. Ein Polizeifoto zeigt die angebliche Attentäterin in einem lila Pulli mit der Aufschrift „New York“. Lila ist die Farbe der kurdischen Bewegung, „New York“könnte auf eine USAConnection hindeuten. Das alles passt perfekt. Am Tag vor dem Attentat hatte Präsident Erdogan erklärt, die USA nähmen Terroristen in Schutz.
Während die Türkei die syrische YPG als Terrororganisation beTürkei trachtet, arbeiten die USA im Kampf gegen den „Islamischen Staat“mit der Kurdenmiliz zusammen. Mit der angeblichen Unterstützung der YPG begründet die auch ihr Veto gegen den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands. Damit macht sich das Land in der Allianz keine Freunde. Aber Erdogan hat andere Sorgen. Er will die spätestens im Juni fälligen Parlamentsund Präsidentenwahlen gewinnen. Im Frühjahr sah es nicht gut aus für Erdogan. Seine AK-Partei rangierte in Umfragen unter 30 Prozent. Doch Erdogan spürt seit einigen Wochen Rückenwind. Erstmals seit Monaten liegt in den Umfragen zur Parlamentswahl die Volksallianz aus Erdogans AKP und der ultrarechten MHP vor dem Bündnis der Oppositionsparteien.
Der Stimmungsumschwung dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass Erdogan sich im Dauerkonflikt mit Griechenland und beim Tauziehen um die Nato-Erweiterung seinen Landsleuten als starker Anführer präsentierte.
Auf einen schärferen Kurs muss sich jetzt vor allem die prokurdische Partei HDP einstellen. Sie liegt in den Umfragen bei elf Prozent und könnte im nächsten Parlament zum Zünglein an der Waage werden – wenn es sie bis dahin noch gibt. Seit 2021 läuft gegen die HDP vor dem Obersten Gerichtshof ein Verbotsverfahren wegen „terroristischer Aktivitäten“. Wenn sie noch vor der Wahl verboten wird, wäre Staatschef Erdogan einen Störfaktor los.
Eine härtere Gangart erwarten auch die Kurdenmilizen in Nordsyrien. Von dort soll die Attentäterin gekommen sein. Die Türkei hält seit 2016 Teile Nordsyriens besetzt. Seit Monaten kündigt Erdogan eine neue Militäroperation gegen die YPG an. Der Anschlag liefert ihm nun ein weiteres Argument für eine Invasion.
Im Wahlkampf könnte Erdogan wie vor der Wahl 2018 von Militäroperationen profitieren. Im Januar 2018 startete die türkische Armee eine Offensive auf die syrische Kurdenstadt Afrin. Vor der „Operation Olivenzweig“lag Erdogan in den Umfragen bei 43,2 Prozent. Sechs Monate später gewann er die Präsidentenwahl mit 52,6 Prozent.