Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Getauscht, gestreichelt, geherzt – und immer wieder mit Füßen getreten
„Al Rihla“fliegt so schnell wie kein anderer, wird behauptet. Er ist bunt, teuer, Ergebnis langer Entwicklung. „Die Reise“heißt er auf Arabisch. So eine liegt hinterm 22. Spielball der WM-Geschichte. Es ist ein Weg von einer zusammengeschnürten Lederpille zur Hightech-Kugel. Der Spielball hat viel erlebt. Er scheint mal den Himmel zu berühren, wird verteufelt, ist Streitobjekt, schreibt Tragödien, Kaiser-Krönungen und ist stets auf dem Boden geblieben.
So wie Lucien Laurent. Allein gelassen steht der Franzose am 13. Juli 1930 im mexikanischen Strafraum. Im Winter von Montevideo haut er den Ball ins Netz (19.). Volley, das erste WM-Tor. Kaum einer nimmt Notiz davon, nicht mal der Schütze.
Heute wohl hätte er den Ball wohl nicht mehr hergegeben.
Die 13 Mannschaften können damals wählen: zwischen dem von Gastgeber Uruguay bevorzugten „TModell“oder dem von Argentinien mitgebrachten „Tiento“. Sie schwören auf ihre Kugel. Das gipfelt darin, dass sich die Nachbarnationen im
Endspiel nicht einigen können. Die ersten 45 Minuten wird so mit Argentiniens Favoriten gespielt, dann mit dem uruguayischen. Dass Uruguay nach dem 1:2 zur Pause noch 4:2 gewinnt, schieben manche auf den Ball, andere auf die Einschüchterung der Himmelblauen.
Den geschnürten Ball in Form zu bringen erfordert Geschick. Das ändert sich mit dem Superball 1950. Braun, mit fast verdecktem Ventil und handgenäht aus Brasilien – er stürzt das Land in ein Trauma. Das größte Stadion hat es gebaut. Das Maracanã, für 200.000 Leute. Uruguays Alcides Ghiggia bringt es mit dem 2:1 im Finale zum Schweigen.
Der Wendepunkt ist eingeläutet. Spätestens seit die Fifa entscheidet, dass die nicht mehr das WM-Gastgeberland die Bälle produziert, sondern Adidas. Aus weißen Sechs- und schwarze Fünfecken entsteht unter einer Kunststoffhaut das Wabenmuster. „Telstar“, zusammengesetzt aus Fernsehen und Stern. Er soll bei der erstmals übertragenen WM aus Mexiko (1970) besser sichtbar sein.
Bessere Flugeigenschaften, widerstandsfähiger und wasserabweisender zu sein treiben die Entwicklung voran. Und den Handel.
Der Tango-Ball, inspiriert vom argentinischen Tanz, wird von 1978 an in Argentinien zum beliebtesten Ball. 20 Jahre lang bestimmen Triaden auf den Sechsecken das Grundmuster, immer zugeschnitten aufs Austragungsland und mitunter mit himmlischem Beistand. Der „Azteca“verführt Maradona, im Viertelfinale gegen England die „Hand Gottes“zu bemühen. Argentinien wird 1986 Weltmeister. Dem Papst ist das Folgemodell „Etrusco“überreicht worden. Italien hilft der Segen 1990 wenig. Andreas Brehme darf durch das Elfmetertor in der Nacht von Rom auf Wolke sieben schweben. Und mit ihm Franz Beckenbauer. Der Kaiser erlebt als Teamchef nach dem Titel 1974 die zweite Krönung.
Mit den Löwen gilt der „Etrusco“1990 als einer der schönsten Bälle. Dumm, dass mit ihm die wenigsten Tore fallen. Der Tricolore folgt, mit gallischem Hahn. Der erste mehrfarbige Spielball ist ein Hingucker.
Oliver Kahn wird den „Fevernova“ noch verfluchen. Im Endspiel 2002 lässt er Rivaldos Schuss prallen. Der Patzer leitet die 0:2-Niederlage ein. Kahn wird aber Spieler der WM.
Immer bunter, technisierter: Vom Teamgeist (2006) bis zur TelstarWiederbelebung (2018) klügelt die Ballschmiede immer raffiniertere Modelle aus, seit Russland sogar mit einem Chip versehen. Torhüter hassen sie durch ihre unvorhersehbaren Flugeigenschaften mitunter.
Zu erwarten ist, das auch „Al Rihla“nur Teil der Reise sein wird. Ob er es schafft, mit einem Schillern bei starkem Licht die Welt trotz der Katar-Kritik zu verführen?
Im Grunde teilt auch er ein trauriges Schicksal. Wie seine Vorgänger wird er immer nur getreten.