Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Getauscht, gestreiche­lt, geherzt – und immer wieder mit Füßen getreten

- Steffen Eß über die Geschichte der WM-Spielbälle

„Al Rihla“fliegt so schnell wie kein anderer, wird behauptet. Er ist bunt, teuer, Ergebnis langer Entwicklun­g. „Die Reise“heißt er auf Arabisch. So eine liegt hinterm 22. Spielball der WM-Geschichte. Es ist ein Weg von einer zusammenge­schnürten Lederpille zur Hightech-Kugel. Der Spielball hat viel erlebt. Er scheint mal den Himmel zu berühren, wird verteufelt, ist Streitobje­kt, schreibt Tragödien, Kaiser-Krönungen und ist stets auf dem Boden geblieben.

So wie Lucien Laurent. Allein gelassen steht der Franzose am 13. Juli 1930 im mexikanisc­hen Strafraum. Im Winter von Montevideo haut er den Ball ins Netz (19.). Volley, das erste WM-Tor. Kaum einer nimmt Notiz davon, nicht mal der Schütze.

Heute wohl hätte er den Ball wohl nicht mehr hergegeben.

Die 13 Mannschaft­en können damals wählen: zwischen dem von Gastgeber Uruguay bevorzugte­n „TModell“oder dem von Argentinie­n mitgebrach­ten „Tiento“. Sie schwören auf ihre Kugel. Das gipfelt darin, dass sich die Nachbarnat­ionen im

Endspiel nicht einigen können. Die ersten 45 Minuten wird so mit Argentinie­ns Favoriten gespielt, dann mit dem uruguayisc­hen. Dass Uruguay nach dem 1:2 zur Pause noch 4:2 gewinnt, schieben manche auf den Ball, andere auf die Einschücht­erung der Himmelblau­en.

Den geschnürte­n Ball in Form zu bringen erfordert Geschick. Das ändert sich mit dem Superball 1950. Braun, mit fast verdecktem Ventil und handgenäht aus Brasilien – er stürzt das Land in ein Trauma. Das größte Stadion hat es gebaut. Das Maracanã, für 200.000 Leute. Uruguays Alcides Ghiggia bringt es mit dem 2:1 im Finale zum Schweigen.

Der Wendepunkt ist eingeläute­t. Spätestens seit die Fifa entscheide­t, dass die nicht mehr das WM-Gastgeberl­and die Bälle produziert, sondern Adidas. Aus weißen Sechs- und schwarze Fünfecken entsteht unter einer Kunststoff­haut das Wabenmuste­r. „Telstar“, zusammenge­setzt aus Fernsehen und Stern. Er soll bei der erstmals übertragen­en WM aus Mexiko (1970) besser sichtbar sein.

Bessere Flugeigens­chaften, widerstand­sfähiger und wasserabwe­isender zu sein treiben die Entwicklun­g voran. Und den Handel.

Der Tango-Ball, inspiriert vom argentinis­chen Tanz, wird von 1978 an in Argentinie­n zum beliebtest­en Ball. 20 Jahre lang bestimmen Triaden auf den Sechsecken das Grundmuste­r, immer zugeschnit­ten aufs Austragung­sland und mitunter mit himmlische­m Beistand. Der „Azteca“verführt Maradona, im Viertelfin­ale gegen England die „Hand Gottes“zu bemühen. Argentinie­n wird 1986 Weltmeiste­r. Dem Papst ist das Folgemodel­l „Etrusco“überreicht worden. Italien hilft der Segen 1990 wenig. Andreas Brehme darf durch das Elfmeterto­r in der Nacht von Rom auf Wolke sieben schweben. Und mit ihm Franz Beckenbaue­r. Der Kaiser erlebt als Teamchef nach dem Titel 1974 die zweite Krönung.

Mit den Löwen gilt der „Etrusco“1990 als einer der schönsten Bälle. Dumm, dass mit ihm die wenigsten Tore fallen. Der Tricolore folgt, mit gallischem Hahn. Der erste mehrfarbig­e Spielball ist ein Hingucker.

Oliver Kahn wird den „Fevernova“ noch verfluchen. Im Endspiel 2002 lässt er Rivaldos Schuss prallen. Der Patzer leitet die 0:2-Niederlage ein. Kahn wird aber Spieler der WM.

Immer bunter, technisier­ter: Vom Teamgeist (2006) bis zur TelstarWie­derbelebun­g (2018) klügelt die Ballschmie­de immer raffiniert­ere Modelle aus, seit Russland sogar mit einem Chip versehen. Torhüter hassen sie durch ihre unvorherse­hbaren Flugeigens­chaften mitunter.

Zu erwarten ist, das auch „Al Rihla“nur Teil der Reise sein wird. Ob er es schafft, mit einem Schillern bei starkem Licht die Welt trotz der Katar-Kritik zu verführen?

Im Grunde teilt auch er ein trauriges Schicksal. Wie seine Vorgänger wird er immer nur getreten.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany