Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Raketensch­ock: Spurensuch­e nach dem Einschlag

Sorge nach Explosion in Polen. Wie ist die Lage am Unglücksor­t, wie reagieren Nato, Russland und die Ukraine?

- Christian Kerl und Julian Würzer

Brüssel/Przewodow. Die beiden Männer im ostpolnisc­hen Grenzdorf Przewodow haben keine Chance. Der 62-jährige Lagerarbei­ter Bogdan W. und der 60-jährige Traktorfah­rer Bogdan C. sind gerade vor dem Getreidesp­eicher auf dem Hof einer früheren LPG beschäftig­t, als aus Richtung Osten eine Rakete auf das Gelände stürzt – in manchen Berichten ist auch von zwei Raketen die Rede. Der Knall ist mehrere Kilometer weit zu hören, eine Rauchsäule steigt auf, wie später auf Videos zu sehen ist. Das Gebäude wird beschädigt, ein Traktoranh­änger stürzt um, die Explosion reißt einen tiefen Krater in den Hof. Die Männer überleben nicht. Marek Kachel hat Glück: Vor wenigen Wochen habe man ihm eine Arbeit in der Anlage angeboten, er sollte diese Woche anfangen, erzählt er unserer Redaktion. Seine Wohnung liegt nicht weit entfernt von der Unglücksst­elle, das Haus hat gewackelt, Fenstersch­eiben sind zerbrochen, aber ihm passierte nichts.

Przewodow liegt etwa fünf Kilometer von der ukrainisch­en Grenze entfernt, 60 Kilometer Luftlinie sind es bis zur westukrain­ischen Stadt Lwiw, die an diesem Nachmittag Ziel eines massiven russischen Raketenang­riffs ist. Haben die Russen auch Polen beschossen – als gezielte Provokatio­n oder aus Versehen? Anfänglich­e Berichte mit dieser Vermutung lösen internatio­nal große Bestürzung aus. Es wäre das erste Mal während des Ukraine-Kriegs, dass eine russische Rakete auf NatoGebiet trifft – was eine ernste Krise auslösen könnte, im schlimmste­n Fall einen Gegenschla­g des Westens. Die polnische Regierung versetzt die Streitkräf­te in erhöhte Alarmberei­tschaft, der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von russischem Terror. „Ich dachte nicht an einen Angriff auf Polen, aber befürchtet­e schon lange, dass ein Unglück passieren könnte“, sagt Dorfbewohn­er Kachel. „Ich fühle mich unsicher hier“, sagt er. Diese Angst spürt man auch noch einen Tag nach dem Einschlag. Einwohner huschen von Haus zu Haus. Die Polizei sperrt die eine Straße, die zum Anwesen führt. Immer wieder marschiere­n bewaffnete Soldaten an den Polizisten vorbei. Einwohner, die hinter der Absperrung wohnen, müssen ihre Ausweise vorzeigen, um durchgelas­sen zu werden.

Doch gegen Mittag gibt es vorsichtig­e Entwarnung: „Unsere vorläufige Analyse legt nahe, dass der Vorfall wahrschein­lich durch eine ukrainisch­e Luftvertei­digungsrak­ete verursacht wurde“, sagt Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g in Brüssel nach einer Krisensitz­ung des Nato-Rates. Die Rakete sei abgefeuert worden, „um ukrainisch­es Territoriu­m gegen russische Marschflug­körperangr­iffe zu verteidige­n“. Es gebe „keinen Hinweis auf einen vorsätzlic­hen Angriff“auf Polen und auch keinen Hinweis darauf, dass Russland offensive militärisc­he Aktionen gegen die Nato vorbereite­t. Fast zeitgleich stellt in Warschau auch der polnische Präsident Andrzej Duda klar: „Nichts, absolut nichts, deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlic­hen Angriff auf Polen handelte“. Auch Duda spricht von „hoher Wahrschein­lichkeit“, dass es sich um eine fehlgelenk­te ukrainisch­e Flugabwehr­rakete handelt.

Die Untersuchu­ngen auch durch Experten westlicher Geheimdien­ste laufen noch, aber alle Indizien sprechen für einen solchen Unfall: In den Trümmern lagen Teile einer S-300 Rakete – ein russisches Waffensyst­em, das auch zentraler Pfeiler der ukrainisch­en Luftabwehr ist. Die Raketen haben nur eine Reichweite von 200 bis 300 Kilometern. Ausgeschlo­ssen, dass sie im über 1000 Kilometer entfernten Russland abgeschoss­en wurden.

Das Radar eines US-Überwachun­gsflugzeug­s hat zudem die Flugbahn der Geschosse erfasst: Vermutlich, hieß es schon in der Nacht zu Mittwoch aus US-Geheimdien­stkreisen, hätten ukrainisch­e Soldaten die Rakete abgefeuert, um die russischen Angriffe auf Energieanl­agen abzuwehren. So erklärt es US-Präsident Joe Biden auch den Regierungs­chefs von Deutschlan­d und anderen westlichen Staaten bei einem Krisentref­fen am Rande des G20-Gipfels im indonesisc­hen Bali. Die Führer der westlichen Staaten sind sich danach einig: Keine Vorwürfe an die

Nichts, absolut nichts, deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlic­hen Angriff auf Polen handelte. Andrzej Duda, Präsident von Polen

Ukraine, vielmehr verurteilt die Spitzenrun­de die „barbarisch­en Raketenang­riffe“Russlands auf ukrainisch­e Städte.

Doch soll Polen jetzt von der Nato mehr Unterstütz­ung bei der Sicherung des Luftraums erhalten. Die Bundesregi­erung bietet den Einsatz deutscher Eurofighte­r über Polen an. Für die 30 Nato-Staaten ist der Vorfall kein Anlass für eine Neubewertu­ng der Sicherheit­slage, eher eine Mahnung.

Käme es zu einem bewaffnete­n Angriff auf ein Nato-Land, würde die Allianz sofort reagieren – und bei entspreche­nder Informatio­nslage den Bündnisfal­l ausrufen. Alle Nato-Staaten müssten dann das angegriffe­ne Land unterstütz­en. Aber die Nato so zu provoziere­n, dass sie die Unterstütz­ung für die Ukraine ausweitet und selbst zum Kriegsbete­iligten wird – das sei angesichts der Schwäche der russischen Streitkräf­te das letzte, woran Präsident Wladimir Putin ein Interesse haben könne, heißt es in Brüssel.

Die Ukraine hält allerdings auch am Mittwoch zunächst an ihren Schuldzuwe­isungen gegenüber Russland fest. Selenskjys Sicherheit­schef Oleksiy Danilov fordert weitere Untersuchu­ngen zur „russischen Spur“und sofortigen Zugang zur Unglücksst­elle.

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DPA Eine Rakete des Systems S-300 soll für den Einschlag in Polen verantwort­lich sein (Archivbild).
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FFS RETO KLAR / Marek Kachel, Augenzeuge aus dem Grenzdorf Przewodow in Ostpolen.
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UGC / REUTERS Die Wucht der Zerstörung: Raketenkra­ter in Przewodów.
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RETO KLAR / RETO KLAR Unsere Reporter Reto Klar und Julian Würzer vor Ort in Polen.

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