Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Raketenschock: Spurensuche nach dem Einschlag
Sorge nach Explosion in Polen. Wie ist die Lage am Unglücksort, wie reagieren Nato, Russland und die Ukraine?
Brüssel/Przewodow. Die beiden Männer im ostpolnischen Grenzdorf Przewodow haben keine Chance. Der 62-jährige Lagerarbeiter Bogdan W. und der 60-jährige Traktorfahrer Bogdan C. sind gerade vor dem Getreidespeicher auf dem Hof einer früheren LPG beschäftigt, als aus Richtung Osten eine Rakete auf das Gelände stürzt – in manchen Berichten ist auch von zwei Raketen die Rede. Der Knall ist mehrere Kilometer weit zu hören, eine Rauchsäule steigt auf, wie später auf Videos zu sehen ist. Das Gebäude wird beschädigt, ein Traktoranhänger stürzt um, die Explosion reißt einen tiefen Krater in den Hof. Die Männer überleben nicht. Marek Kachel hat Glück: Vor wenigen Wochen habe man ihm eine Arbeit in der Anlage angeboten, er sollte diese Woche anfangen, erzählt er unserer Redaktion. Seine Wohnung liegt nicht weit entfernt von der Unglücksstelle, das Haus hat gewackelt, Fensterscheiben sind zerbrochen, aber ihm passierte nichts.
Przewodow liegt etwa fünf Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, 60 Kilometer Luftlinie sind es bis zur westukrainischen Stadt Lwiw, die an diesem Nachmittag Ziel eines massiven russischen Raketenangriffs ist. Haben die Russen auch Polen beschossen – als gezielte Provokation oder aus Versehen? Anfängliche Berichte mit dieser Vermutung lösen international große Bestürzung aus. Es wäre das erste Mal während des Ukraine-Kriegs, dass eine russische Rakete auf NatoGebiet trifft – was eine ernste Krise auslösen könnte, im schlimmsten Fall einen Gegenschlag des Westens. Die polnische Regierung versetzt die Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von russischem Terror. „Ich dachte nicht an einen Angriff auf Polen, aber befürchtete schon lange, dass ein Unglück passieren könnte“, sagt Dorfbewohner Kachel. „Ich fühle mich unsicher hier“, sagt er. Diese Angst spürt man auch noch einen Tag nach dem Einschlag. Einwohner huschen von Haus zu Haus. Die Polizei sperrt die eine Straße, die zum Anwesen führt. Immer wieder marschieren bewaffnete Soldaten an den Polizisten vorbei. Einwohner, die hinter der Absperrung wohnen, müssen ihre Ausweise vorzeigen, um durchgelassen zu werden.
Doch gegen Mittag gibt es vorsichtige Entwarnung: „Unsere vorläufige Analyse legt nahe, dass der Vorfall wahrscheinlich durch eine ukrainische Luftverteidigungsrakete verursacht wurde“, sagt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel nach einer Krisensitzung des Nato-Rates. Die Rakete sei abgefeuert worden, „um ukrainisches Territorium gegen russische Marschflugkörperangriffe zu verteidigen“. Es gebe „keinen Hinweis auf einen vorsätzlichen Angriff“auf Polen und auch keinen Hinweis darauf, dass Russland offensive militärische Aktionen gegen die Nato vorbereitet. Fast zeitgleich stellt in Warschau auch der polnische Präsident Andrzej Duda klar: „Nichts, absolut nichts, deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlichen Angriff auf Polen handelte“. Auch Duda spricht von „hoher Wahrscheinlichkeit“, dass es sich um eine fehlgelenkte ukrainische Flugabwehrrakete handelt.
Die Untersuchungen auch durch Experten westlicher Geheimdienste laufen noch, aber alle Indizien sprechen für einen solchen Unfall: In den Trümmern lagen Teile einer S-300 Rakete – ein russisches Waffensystem, das auch zentraler Pfeiler der ukrainischen Luftabwehr ist. Die Raketen haben nur eine Reichweite von 200 bis 300 Kilometern. Ausgeschlossen, dass sie im über 1000 Kilometer entfernten Russland abgeschossen wurden.
Das Radar eines US-Überwachungsflugzeugs hat zudem die Flugbahn der Geschosse erfasst: Vermutlich, hieß es schon in der Nacht zu Mittwoch aus US-Geheimdienstkreisen, hätten ukrainische Soldaten die Rakete abgefeuert, um die russischen Angriffe auf Energieanlagen abzuwehren. So erklärt es US-Präsident Joe Biden auch den Regierungschefs von Deutschland und anderen westlichen Staaten bei einem Krisentreffen am Rande des G20-Gipfels im indonesischen Bali. Die Führer der westlichen Staaten sind sich danach einig: Keine Vorwürfe an die
Nichts, absolut nichts, deutet darauf hin, dass es sich um einen absichtlichen Angriff auf Polen handelte. Andrzej Duda, Präsident von Polen
Ukraine, vielmehr verurteilt die Spitzenrunde die „barbarischen Raketenangriffe“Russlands auf ukrainische Städte.
Doch soll Polen jetzt von der Nato mehr Unterstützung bei der Sicherung des Luftraums erhalten. Die Bundesregierung bietet den Einsatz deutscher Eurofighter über Polen an. Für die 30 Nato-Staaten ist der Vorfall kein Anlass für eine Neubewertung der Sicherheitslage, eher eine Mahnung.
Käme es zu einem bewaffneten Angriff auf ein Nato-Land, würde die Allianz sofort reagieren – und bei entsprechender Informationslage den Bündnisfall ausrufen. Alle Nato-Staaten müssten dann das angegriffene Land unterstützen. Aber die Nato so zu provozieren, dass sie die Unterstützung für die Ukraine ausweitet und selbst zum Kriegsbeteiligten wird – das sei angesichts der Schwäche der russischen Streitkräfte das letzte, woran Präsident Wladimir Putin ein Interesse haben könne, heißt es in Brüssel.
Die Ukraine hält allerdings auch am Mittwoch zunächst an ihren Schuldzuweisungen gegenüber Russland fest. Selenskjys Sicherheitschef Oleksiy Danilov fordert weitere Untersuchungen zur „russischen Spur“und sofortigen Zugang zur Unglücksstelle.